Reinbek. Das Pharmaunternehmen baut massiv Arbeitsplätze ab. 38 Beschäftigte gehen freiwillig. Der Geschäftsführung reicht das offenbar nicht.
Alarmstimmung bei Mitarbeitern des Reinbeker Arzneiherstellers Allergopharma: Viele bangen um ihren Job. Mehr als drei Dutzend Beschäftigte haben bereits einen Aufhebungsvertrag unterschrieben. Doch das reicht der Geschäftsführung offenbar nicht. Sie will weitere Stellen abbauen, berichten Angestellte. Darüber hinaus wurden in der Probezeit befindliche Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeitsverträge beendet, um Personalkosten einzusparen. „Und Befristungen werden wohl auch auslaufen“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Alexander Winkel.
Seit März gehört das Unternehmen zu Dermapharm Holding
Wie viele Mitarbeiter gehen müssen, kann er nicht kommunizieren. Die Arbeitnehmervertretung ist noch in Verhandlungen. Dem Gremium gehören elf Personen an. „Natürlich ist es unser Ziel, möglichst viele Jobs zu erhalten.“ Die einzige Zahl, die der 52-Jährige nennt: „38 Kollegen haben am Freiwilligenprogramm teilgenommen.“ Sie sind einer möglichen Kündigung zuvorgekommen. Winkel habe nicht unbedingt mit dieser Entwicklung gerechnet. „Allerdings war mir klar, dass es eine Option ist.“
Seit 31. März dieses Jahres ist der Anbieter von Immuntherapien gegen Heuschnupfen und allergisches Asthma Bestandteil der bayerischen Dermapharm Holding. Sie hatte die Firma dem Chemiekonzern Merck abgekauft. Über den Preis wurde Stillschweigen vereinbart. Zum Zeitpunkt der Übernahme hatte Allergopharma 500 Mitarbeiter, 430 davon waren an der Hermann-Körner-Straße gegenüber dem Freizeitbad im Reinbeker Gewerbegebiet tätig. Dermapharm verfolgt die Strategie, vor allem durch den Erwerb von Marken zu wachsen und ist im SDax notiert.
Geschäftsführer erläuterten Mitarbeitern die Situation
Ein alleinerziehender Vater mit zwei Kindern, der namentlich nicht genannt werden möchte und von den Streichungen bedroht ist, kritisiert den Betriebsrat: „Leider ist er nicht sehr hilfreich, was die Informationen zum geplanten Stellenabbau angeht.“ Seine Angst vor dem Jobverlust begründet er auch so: „Nach der Übernahme der Strathmann AG mit Sitz in Hamburg durch Dermapharm 2018 haben dort mehr als 50 Prozent der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verloren.“
Winkel geht davon aus, die Belegschaft Anfang Oktober detailliert in Kenntnis setzen zu können. Er ist seit sieben Jahren Betriebsratsvorsitzender, seine Frau arbeitet ebenfalls bei Allergopharma. Zum Umgang mit den neuen Chefs sagt er: „Dermapharm pflegt eine andere Firmenkultur als Merck.“
Die beiden Geschäftsführer, Hans-Georg Feldmeier und Jürgen Ott, hatten Anfang Juni eine drei DIN-A4-Seiten umfassende E-Mail an die Belegschaft verschickt, darin unter anderem die wirtschaftliche Situation erläutert. Zudem antworteten sie auf Fragen von Mitarbeitern. Der Abschnitt ist in sieben Themenkomplexe unterteilt – zum Beispiel mit den Überschriften Arbeitsplätze, Mietverträge, Gehalt und Benefits. Das Dokument liegt unserer Redaktion vor. Die Chefs betonen, dass sie mit Allergopharma mehr erreichen wollen, als nur den Ist-Zustand zu verwalten. Und sie weisen auf seit Jahren rückläufige Marktanteile bei steigenden Kosten hin. „Diesem Trend müssen und werden wir uns energisch entgegenstemmen.“
Bürgermeister wusste nichts von den Stellenstreichungen
In dem Schreiben wird auch die Corona-Krise erwähnt, die nicht ohne negative Auswirkungen auf Umsätze bleibe. Außerdem hatte laut dem Geschäftsführer-Duo das Merck-Management die Preise für seine Produkte in Deutschland erhöht. Das sei mit dem Preismoratorium nicht vereinbar gewesen. Die gesetzlichen Krankenkassen hätten das in diesem Frühjahr bemerkt und erhebliche Rückzahlungsforderungen für 2019 geltend gemacht.
Auf detaillierte Fragen zu den Geschehnissen bei Allergopharma wollte Dermapharm nicht antworten, sondern gab lediglich eine allgemein gehaltene Stellungnahme ab.
Reinbeks Bürgermeister Björn Warmer hat von dem Stellenstreichungen bislang nichts gewusst. Als er jetzt damit konfrontiert wird, sagt der Verwaltungschef von Stormarns zweitgrößter Stadt: „Jede Form des Arbeitsplatzabbaus macht mir Sorge.“ Er habe jedoch keine Einflussmöglichkeiten. Allergopharma ist einer der größten Gewerbesteuerzahler der Stadt. Ein Wegzug ist kein Thema. Dermapharm bekennt sich ausdrücklich zum Standort.
Kontroverse Diskussionen in politischen Gremien
Die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Geschäft sind in Stormarn nicht zuletzt ob der modernen Produktionsstätten gegeben. 2017 hatte Merck ein 42 Millionen Euro teures Gebäude eingeweiht. Zur Feier war der damalige Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) geladen, sprach in seiner Rede von einer „großartigen Investition“. Zu dieser Zeit stellte das Unternehmen eine Million Präparate pro Jahr her. Der 6000-Quadratmeter-Neubau ist so ausgelegt, dass das Zehnfache ausgeliefert werden kann. Der Komplex war Grundlage für die geplante Expansion in die USA. Doch daraus wurde nichts.
Vorausgegangen war ein Gewerbestreit. Allergopharma hatte versucht, der Stadt einen öffentlichen Weg abzukaufen und dadurch die beiden Betriebsgelände zu verbinden. Nur so sei gesichert, eine Lizenz der zuständigen Fachbehörde in den Vereinigten Staaten zu erhalten für den Verkauf der Produkte, argumentierte die Geschäftsführung. Daraufhin machte eine Bürgerinitiative mobil. In politischen Gremien wurde kontrovers diskutiert. Als die Entscheidungsträger Ende 2018 das Bauleitverfahren in Gang setzten, schien das Unternehmen kurz vor dem Ziel. Ein halbes Jahr später machte der Arzneimittelproduzent allerdings einen Rückzieher.
Im Februar 2020 wurden sich Merck und Dermapharm einig. Mit der Veräußerung konzentriere man sich im Pharma-Geschäft weiter auf die Entwicklung innovativer Medikamente etwa gegen Krebs, teilte die Unternehmensgruppe mit Sitz in Darmstadt mit. Kurz darauf segnete die zuständige Aufsichtsbehörde die Transaktion ab.