Hamburg. Nach der Anklage der Staatsanwaltschaft geht es nun vor Gericht – ein Gewinner ist der HSV-Profi trotzdem bereits.
Bakery Jatta hat sich als Fußballer erst eines „Vergehens“ schuldig gemacht: Am 9. November 2019 sah der Offensivspieler beim Auswärtsspiel in Kiel Rot – eine harte Entscheidung übrigens für ein wenig kriminelles Foul.
Ansonsten ist die Liste seiner „Verfehlungen“ auf dem Platz überschaubar. In seinen 99 Zweitligaspielen für den HSV kassierte der 23-Jährige nur neun Verwarnungen. Ein „Bußgeldverfahren“ könnte man ihm auf dem Platz ansonsten wohl nur wegen Überschreitens der „zulässigen Höchstgeschwindigkeit für Zweitligafußballer“ aufbrummen. Und dennoch droht er nun vor Gericht zu landen.
Anklage gegen Bakery Jatta hat Geschmäckle
Sie merken es schon: Ziemlich viele Tüttelchen für einen ersten Absatz. Aber die spielen in dem zu verhandelnden Fall nun mal eine gewichtige Rolle. Am Nikolaustag hat die Staatsanwaltschaft Hamburg Anklage im „Fall Jatta“ erhoben, weil sie nach Abschluss der Ermittlungen glaubt, dass Jatta in Wahrheit Bakary Daffeh sei.
Am Ende der Pressemitteilung heißt es zwar unterstrichen und fett markiert, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens die Unschuldsvermutung gelte – allerdings setzt die Behörde selbst den Namen Bakery Jatta in Anführungszeichen. Präjudizierender geht es wohl kaum. Es ist nicht die einzige Auffälligkeit in dieser Causa, die nun vor dem Jugendrichter des Amtsgerichts Hamburg-Altona verhandelt werden soll.
Natürlich, es wäre vermessen, an dieser Stelle Richter spielen zu wollen, da nicht alle der von der Staatsanwaltschaft gesammelten Informationen öffentlich sind. Wir müssen uns also an die Fakten halten. Und Fakt ist, dass Jatta im Besitz eines (beglaubigten) Passes ist, Ähnlichkeit zwischen Jatta und Daffeh hin oder her. Die Hamburger Staatsanwaltschaft wird gute Argumente vorbringen müssen, um eine Verurteilung Jattas zu erreichen.
Bakery Jatta: Welche Rolle spielt die „Bild“?
Viele Fragen bleiben zum jetzigen Stand rund um die Identität Jattas. Warum etwa hat eine Behörde, die über Unterbesetzung klagt und durchaus den juristischen Ermessensspielraum gehabt hätte, das Verfahren einzustellen, sich mit personellem Einsatz und auch Steuergeld in diesem Fall festgebissen, anstatt sich um wichtigere mutmaßliche Straftaten zu kümmern?
Machen wir es wie die Staatsanwälte und sammeln Indizien, landen wir ganz schnell beim Thema Öffentlichkeit und Druck. Fakt ist, dass das Thema von einem Medium ins Rollen gebracht wurde mit der Folge, dass es zu skandalösen Aktionen gegen Jatta in fremden Stadien kam. Als das Bezirksamt im September 2019 die Akte schloss, strahlte dies alles auch negativ auf diese Medien zurück.
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Erst ein anonymer Brief einer „Gemeinschaft Besorgter Bürger“ brachte Anfang 2020 die Ermittlungen wieder in Gang. Und als Beamte im Juli 2020 die Wohnung Jattas durchsuchten, waren – was für ein Zufall – Reporter des betreffenden Mediums vor Ort dabei. Ob es Verbindungen oder sogar Abhängigkeiten zwischen der Behörde und Medien gibt und wer aus welchem Grund ein Interesse an der Wahrheit über Jatta hat, könnte auch eine lohnende Ermittlung sein.
Bakery Jatta: Ein Beispiel für gelungene Integration
Wobei: Dass die ganze Wahrheit jemals ans Licht kommt, ist wohl unwahrscheinlich. Aber ist das wirklich so wichtig? Klar, sein Schicksal bewegt uns alle. In diesem Serienmarathon wollen wir wissen, ob das Drehbuch für den Hauptdarsteller ein Happy End vorgesehen hat. Doch selbst wenn Jatta eine Geldstrafe zahlen muss, kann er schon heute für mich persönlich aus mehreren Gründen kein Verlierer mehr sein.
Der Gambier, der einst aus seinem Land flüchtete, um sein Leben zu retten, ob als 17- oder als 19-Jähriger, dient als vorbildhaftes Beispiel für gelungene Integration. Er ist äußerst beliebt in seinem sozialen Umfeld, zahlt regelmäßig seine Steuern und tut, wie es schon scherzhaft zu lesen war, aktiv etwas gegen den Fachkräftemangel in Deutschland, in seinem Fall auf den Außenpositionen einer Fußballmannschaft.
Und er hat mit seinem Fall viel Positives bewirkt. Nicht nur sein Arbeitgeber, der ihn von Anfang unterstützt hat, sondern auch die vielen Solidaritätsbekundungen unterstreichen, was die Mehrheit der Deutschen will: eine weltoffene, bunte Gesellschaft. Das zählt.
Die Chronologie im Fall Bakery Jatta
- 7. August 2019: Die „Sport Bild“ fragt auf ihrem Titel: „Spielt HSV-Star Jatta mit falscher Identität?“ Der Verdacht: Er heißt in Wahrheit Bakary Daffeh und ist am 6. November 1995 geboren – und nicht am 6. Juni 1998. Der 1. FC Nürnberg legt noch am gleichen Tag Einspruch gegen das 0:4 ein. 8. August 2019: „Bild“ titelt: „Jatta drohen 5 Jahre Haft und die Abschiebung“. 13. August 2019: Das Bezirksamt Hamburg-Mitte bittet Jatta bis zum 23. August um eine Stellungnahme. 15. August 2019: Jatta fliegt mit den HSV-Chefs nach Frankfurt, wo er beim DFB vorsprechen muss. 19. August: 2019: Nach Nürnberg unternimmt auch Bochum juristische Schritte. 25. August: In Karlsruhe wird Jatta ausgepfiffen und rassistisch beleidigt. Auch der KSC legt Einspruch ein.
- 30. August 2019: Jattas Anwalt Thomas Bliwier (hatte eine Fristverlängerung beantragt) reicht beim Bezirksamt Unterlagen ein, die die Identität Jattas beweisen sollen: einen gültigen Reisepass sowie eine von gambischen Behörden beglaubigte Geburtsurkunde und die eidesstattliche Versicherung eines zuständigen Beamten.
- 2. September 2019: Die Ermittlungen des Bezirksamts gegen Jatta werden eingestellt. Daraufhin ziehen die drei Zweitligaclubs ihre Einsprüche zurück.
- 20. September 2019: „Bild“ berichtet, dass sich Jatta mit einer Daffeh-E-Mail-Adresse 2015 bei den Behörden angemeldet habe. 17. Oktober 2019: Die Bremer Staatsanwaltschaft schließt die Akte Jatta.
- 8. Januar 2020: Die Staatsanwaltschaft Hamburg eröffnet – was erst später bekannt wird – ein Ermittlungsverfahren, nachdem es einen anonymen Brief der „Gemeinschaft Besorgter Bürger“ mit einer Strafanzeige gegen den HSV, den damaligen Trainer Dieter Hecking und den DFB gegeben hatte. Im Zuge der anschließenden Ermittlungen fallen den Behörden Kontakte Jattas zu Fußballern aus dem Senegal, Gambia und Nigeria auf, die früher auch mit Daffeh in Verbindung gestanden haben sollen. 20. Februar 2020: Jatta äußert sich im Vereinsmagazin „HSV live“ zu den Vorwürfen: „Ich wurde öffentlich an den Pranger gestellt. Aber wofür? Was hatte ich verbrochen? Ich habe mich gefühlt, als wollte man mich wegsperren, mich ins Gefängnis stecken.“ Und: „Zu Hause ist da, wo man Frieden findet. Und ich habe hier meinen Frieden gefunden.“
- 2. Juli 2020: Unliebsamer Besuch für Jatta in seiner Wohnung: Die Staatsanwaltschaft führt eine Hausdurchsuchung durch. Ihm wird der „Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz“ vorgeworfen. Mehrere elektronische Datenträger Jattas wie ein Handy und ein Laptop werden sichergestellt.
- 10. Juli 2020: HSV-Ultras vom Fanprojekt „Nordtribüne Hamburg“ fordern ein Ende der Ermittlungen und „die Rückgabe aller beschlagnahmten Geräte“.
- 27. Juli 2020: Bliwier bezeichnet die Vorwürfe als „zu Unrecht erhoben“ und erwartet die Einstellung des Verfahrens.
- 7. Mai 2021: Die Uni Freiburg veröffentlicht ein von der Hamburger Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass Jatta und Daffeh mit hoher Wahrscheinlichkeit dieselbe Person seien.
- 11. August 2021: Bliwier fordert die Behörden auf, endlich auch in Gambia zu ermitteln, wenn man denn weiterhin Verdacht gegen seinen Mandanten hege.
- 6. Dezember 2021: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Jatta.
- 8. März 2022: Das Amtsgericht Hamburg-Altona lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Damit gilt Jatta offiziell als unschuldig.
- 14. März 2022: Die Staatsanwaltschaft legt Beschwerde gegen den richterlichen Beschluss ein.
- 6. April 2022: Das Amtsgericht lehnt ein Befangenheitsgesuch der Staatsanwaltschaft gegen Richter Volker Stegmann ab.
- 8. Juli 2022: Das Hamburger Landgericht lehnt die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ab. Zu einem Verfahren in der Identitätsdebatte wird es somit nicht kommen. Weitere Rechtsmittel sind ausgeschlossen. Jatta ist Jatta.