Im Zug zur Macht: Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) sagt, er sei auch mal links gewesen. Früher, als er noch nicht gewusst habe, wo die „Butter herkommt“. Heute twittert, postet, redet und debattiert er.

Für ein paar Sekunden ist Stille. Die Räder unter dem Bordrestaurant im ICE 1507 in Richtung Berlin heulen leise. Draußen rauschen die Wiesen von Brandenburg vorbei, die Sonne scheint ins Abteil. Burkhardt Müller-Sönksen schaut aus dem Fenster und kneift die Augen zusammen. Er hat viel und schnell geredet in den letzten anderthalb Stunden. Über die Euro-Krise, die Steuerpolitik, Facebook und Angela Merkel. Er hat sich oft nach vorne gebeugt über den kleinen Tisch und sich seinen Worten hinterhergelehnt, damit sie noch mehr Schwung bekommen. Er hat mit dem Zeigefinger durch das Abteil gewirbelt, er hat geschmunzelt, die Stirn gerunzelt oder abgewinkt, wenn ihn etwas geärgert hat. Burkhardt Müller-Sönksen ist kein stiller Mensch, das weiß man schon nach ein paar Minuten gemeinsam mit ihm im Zug. Aber gerade sagt er nichts.

Meldung vom 30. August 2010: „Anschlag auf Politiker – Staatsschutz fahndet.“ Um 3 Uhr nachts hatten Unbekannte das Haus von Müller-Sönksen in Niendorf angegriffen. Sie warfen Steine und Farbbeutel. Bevor die Stille am Tisch im Zug unangenehm wird, findet Müller-Sönksen Worte für diese Nacht. „Wenn Sie Pflastersteine auf Ihrem Esstisch liegen haben, die doppelt so groß sind wie eine Faust, oder wenn Sie Einschusslöcher in der Fensterscheibe haben, dann geht Ihnen durch den Kopf: Wenn ich da gesessen hätte, wäre ich tot.“

Burkhardt Müller-Sönksen, 54 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter, ist Spitzenkandidat der Hamburger FDP für die Bundestagswahl. Er wird attackiert mit Worten, im Bundestag, an Info-Ständen in Fußgängerzonen, mit gekritzelten Grimassen auf seinen Wahlplakaten. Das ist das, worauf sich ein Politiker einlässt. Dafür teilen die Volksvertreter wie er ja auch ordentlich aus: in Reden, in Interviews, in Fußgängerzonen. Doch dieses Geschäft endet spätestens an der Haustür. Normalerweise. In dieser einen Augustnacht saß Müller-Sönksen vor einem Haufen Glasscherben und verschmierter Farbe. „Du wirst in deiner eigenen Wohnung geteert und gefedert. So fühlt sich das an. Das ist feige und kränkend.“ Aber er schreie hinterher nicht nach schärferen Gesetzen.

Müller-Sönksen reagiert anders. Vor ein paar Wochen wurde er von einem Rednerpult auf einer Demonstration in der Hamburger Innenstadt gezerrt. Nun erstattete er Anzeige. Als Strafe schlägt er vor: Der Jugendliche soll im Wahlkampf FDP-Plakate kleben. Mit ihm. Mit Burkhardt Müller-Sönksen. Vielleicht, sagt er, gewinne der junge Mann dann ein bisschen Respekt vor der mühsamen Arbeit der Politik.

Respekt. Für Politiker, für ihn, für seine Leistung. Vor allem für Menschen, die sich hocharbeiten mussten, schuften mussten, für sie hat Anerkennung einen hohen Wert. Weil sie dafür viel investiert haben. Müller-Sönksen, Korvettenkapitän der Reserve, arbeitete sich hoch: vom Vorsitzenden des Kreisverbandes der FDP, zum Parteichef im Bezirk Eimsbüttel, Müller-Sönksen saß in Ausschüssen und war Pressesprecher der Hamburger Partei. 13 Jahre nach seinem Beginn als Kreis-Politiker kam er an die Macht: 2001 wurde er Fraktionschef der FDP in der Bürgerschaft. Seit 2005 sitzt er im Bundestag. Müller-Sönksen wühlte sich durch die Partei nach oben.

Im Bundestag sitzt er im Verteidigungsausschuss und ist medienpolitischer Sprecher der FDP. Auf Twitter folgen ihm fast 1700 Menschen. Müller-Sönksen postet gerade viele Fotos vom Wahlkampf auf seiner Facebook-Seite, von Rainer Brüderle im Curio-Haus, von neuen Plakaten, von Diskussionen in Schulen. Und einen Link zu einer neuen Idee im Internet postet er: „Vote on the road“, heißt das Projekt. Bei der Mitfahrgelegenheit „Blablacar.de“ bieten Politiker vor der Wahl online ihren Beifahrersitz an. Wähler bewerben sich mit Fragen und Profil – und fahren dann im Auto mit Politikern mit. Wählernähe abseits der Bierzelte, das will das Projekt der kleinen Internetfirma erreichen. Das Unternehmen macht über die Fahrt ein Video und wirbt damit im Netz. Die erste Folge war mit Burkhardt Müller-Sönksen. „MdB-Mitfahr-Bürgersprechstunde, ich war – mal wieder – der erste Politiker auf diesem Feld“, schreibt er zu dem Link auf Facebook. Seit einiger Zeit hat er auch eine eigene Bürgersprechstunde, während er im Zug nach Berlin sitzt. „ICE-Sprechstunde“ mit Burkhardt Müller-Sönksen. Er schreibt auf Facebook, wann er von Berlin nach Hamburg im Zug sitzt und in welchem Abteil – und Bürger können ihn dann ansprechen. So funktioniert das. Wieder so eine Idee von ihm.

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Sie posten selbst sehr viel bei Facebook. Fühlen Sie sich sicher?

„Ich habe nie die Illusion gehabt, dass ich Kontrolle über das habe, was ich öffentlich poste. Alles kann irgendwann auch gegen mich verwandt werden. Aber das Veröffentlichen von Meinungen und Politik gehört zur Person Burkhardt Müller-Sönksen. Ich halte mit Kritik auch nicht hinter dem Berg. Anfangs habe ich Facebook und Twitter verschlafen, bis mich ein Mitarbeiter vor vier Jahren mal angestoßen hat, ein eigenes Profil zu entwickeln. Das hat mir als medienpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion sehr geholfen – bis hin zum Rundgang mit Mark Zuckerberg durch den Reichstag.“

Welche Schritte gibt es im Kampf gegen illegale Abhörmaßnahmen durch Geheimdienste?

„Es macht keinen Sinn, die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit unseren amerikanischen Freunden jetzt auf Eis zu legen, um Druck bei der Aufklärung im NSA-Skandal zu erhöhen. Das verbaut uns mehr Chancen, als dass es hilft. Deutschland benötigt eigene Sicherheitstechniken auf eigenen Servern, dass wir nicht mehr auf amerikanische Dienstleister angewiesen sind. Und Firmen in Deutschland wie Telekom oder Vodafone müssen sich vertraglich auf klare Sicherheitsrichtlinien festlegen.“

Vertrauen Sie Kanzlerin Merkel in der NSA-Debatte?

„Ja. Wenn sich allerdings herausstellt, dass ihr Kanzleramtsminister Pofalla mehr wusste, als er bisher zugegeben hat, dann ist er nicht mehr zu halten in seinem Amt.

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Als Müller-Sönksen Anfang der 80er in Hamburg Jura studierte, fetzten sich die Studenten gerade über das Hochschulrahmengesetz. Es ging um die Freiheit der Lehre, Autonomie der Universität. Als junger Mensch sei er ja auch mal links gewesen, erzählt er heute. Sogar einen Ansteck-Button von Willy Brandt hatte er. Als Schüler wisse man halt noch nicht, wo die Butter herkomme. Dass eine Gesellschaft Leistung brauche. Müller-Sönksen wurde erwachsen – und Leistung für ihn immer wichtiger. Im Streit um das Uni-Gesetz fand er den Weg zur FDP. Damals war er 21 Jahre alt.

Müller-Sönksen hat sich nach oben gearbeitet, er hat Macht verloren, so wie 2011, als ihn die Partei aus dem Vorstand wählte. Obwohl er im Bundestag sitzt. Ziemlich ungewöhnlich. Und er hat Macht gewonnen: Im vergangenen Jahr setzte er sich gegen Sylvia Canel durch – und wurde Spitzenkandidat der FDP. Aber er mache Canel ein Kompliment. „Sie zeigt auch als Verliererin Charakterstärke und macht einen starken Wahlkampf.“

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Ist ein Unternehmer in Deutschland ein Feindbild?

„Deutschland hat starke Unternehmer und Menschen mit guten Geschäftsideen. Deutschland hat zudem einen Mittelstand, der wie ein Fundament auf die Wirtschaftsleistung des Landes wirkt. Aber ja, wir erleben in Deutschland zu oft eine Neiddebatte gegenüber den Leistungsträgern. Und es gibt in Deutschland auch Hemmnisse für Innovation und Unternehmergeist, wie er in den USA ausgeprägt ist. Warum gibt es keinen Mark Zuckerberg oder Bill Gates in Deutschland? Weil die beiden hierzulande mit ihrer Garagen-Firma schon bei der Berufsgenossenschaft scheitern würden, weil es dort keine Herren- und Damentoilette gibt.“

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Wer mit Müller-Sönksen im Zug sitzt, sieht ihn zwei Stunden lang ernsthaft diskutieren. Er schaut nur einmal kurz auf sein Handy, sonst liegt es neben dem Teller Chili con Carne im Bord-Restaurant. Der FDP-Mann spricht über den Euro und die Grenze für dessen Rettung. Er redet von der Partei Alternative für Deutschland (AfD), die gerade mit einem Anti-Euro-Kurs Stimmen fängt. Die AfD schüre nationalistische und europafeindliche Töne, sagt Müller-Sönksen. Er nennt Merkel eine „ausgebuffte Machtpolitikerin“, mal so völlig wertneutral, wie er dann noch hervorhebt. Und den vier Jahren Koalition aus Union und FDP im Bund gibt er die Schulnote „Zwei minus“ – das schließe auch das Betragen in den ersten Monaten ein. „Wir haben sicher alles andere als harmonisch begonnen.“

Es gibt das Politiker-Gespräch mit Müller-Sönksen – und es gibt das Bild von ihm in den Medien. Die „Hamburger Morgenpost“ nannte ihn den „schrulligsten Politiker der Stadt“, was immer der Reporter damit meinte. Müller-Sönksen postet lustige Fotos bei Facebook, er lief mit Pudelmütze und Bommel zum Neujahrspunsch ins Élysee Hotel. Wer ihn auf seinem Handy anruft, hört kein normales Tuten, sondern die Melodie von Dvoraks neunter Sinfonie. Burkhardt Müller-Sönksen nutzt Soziale Medien in der Politik – und irgendwie ist er auch ein Twitter-Account-gewordener Politiker: immer auf Sendung, meinungsstark, interaktiv, ein bisschen flippig vielleicht. Und manchmal eben auch schnell wieder versendet. Sind Sie ein Einzelkämpfer? „Nein. Wenn man versucht, alleine zu kämpfen, wird man in der Politik nie erfolgreich sein. Ich suche immer nach Verbündeten.“

Politik, sagt er, dürfe nicht immer nur ernsthaft und unlustig sein. Das Geschäft in Berlin, der Betrieb im Bundestag, all das brauche auch mal Ironie und Selbstironie. So ist sein Blick auf die Dinge. „Aber jeder, der mich kennt, weiß: Ich nehme meine Arbeit verdammt ernst.“ Das will er dann auch noch sagen. Zu dem Link mit dem Video über seine Mitfahrgelegenheit nach Berlin und dem Wähler, der auf seinem Beifahrersitz saß, hat er noch einen Nachtrag ins Netz kommentiert. „Ich bin mal gespannt, wann der Erste hier den Namen ,Blablacar‘ auf meine Reden überträgt: Witz, ick hör Dir trapsen…!“ Er, Müller-Sönksen, im Blablacar. Daneben setzt er einen großen Smiley.