Im Zug zur Macht: Die Hamburger Spitzenkandidatin der Grünen kennt Sieg und Niederlage. Ihr Verhältnis zur Macht hat Anja Hajduk früher geklärt als ihre Parteifreunde vom ehemaligen Fundi-Flügel
Erst lag sie vorn, dann fiel sie weit zurück. Jetzt will sie sich wieder an die Spitze kämpfen. Nein, das ist keine Zustandsbeschreibung des Wechselbades der Gefühle im Leben der Wahlkämpferin Anja Hajduk. Sieg und Niederlage erlebt die Spitzenkandidatin der Hamburger Grünen seit dem Bundesliga-Saisonstart vielmehr als Teilnehmerin einer Fußball-Tipprunde. Das Rateglück mag launisch sein, den Sachverstand bringt Hajduk mit.
„Ich bin Fan von Borussia Mönchengladbach, seit ich Kind war“, erzählt Hajduk, als der ICE schon durch die Weiten der norddeutschen Ebene in Richtung Hauptstadt rauscht. „Damals kannte ich alle Tabellenstände und Tordifferenzen. Und ich habe auch sehr ordentlich Fußball gespielt.“ Hajduk kickte mit Schulfreunden im Park. Das war in Duisburg. Dort, am Niederrhein, kam sie vor 50 Jahren zur Welt. Mönchengladbach liegt zwar nicht weit entfernt, aber dass die Borussia Hajduks Lieblingsverein wurde und bis heute ist, hat einen anderen Grund: Günter Netzer, der mit den langen blonden Haaren, dessen Flanken aus der Tiefe des Raumes kamen. „Das war mein Idol“, bekennt Hajduk, und Blick und Stimme der sonst so kontrolliert wirkenden Politikerin haben plötzlich etwas Schwärmerisches.
Hauptbahnhof Hamburg, Gleis 8, kurz nach 16 Uhr: Die Frau, die einen dunkelblauen Blazer und eine schwarze Hose trägt und einen kleinen Rollkoffer hinter sich herzieht, könnte auf dem Weg zu einem Businessmeeting in Berlin sein. Eine gewisse Unscheinbarkeit könnte dazu verleiten, Anja Hajduk zu übersehen. Wenn da nicht der resolute Gang wäre und die abrupte Geste, mit der sie ihren Koffer dort abstellt, wo sie den Waggon erwartet, in dem sie zwei Plätze für uns reserviert hat.
Hajduk wird erkannt. Andere Politiker, auch Wirtschaftsbosse sind auf dem Weg in die Hauptstadt. Die Grüne kennt die Strecke. Sie war von 2002 bis 2008 schon einmal Bundestagsabgeordnete und machte sich schnell als Haushaltsexpertin und Finanzpolitikerin einen Namen. Sie kehrte wegen der schwarz-grünen Koalition nach Hamburg zurück und wurde Senatorin der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Nach dem Bruch des Bündnisses 2010 kürten die Parteifreunde die Ex-Senatorin zur Spitzenkandidatin bei der Bürgerschaftswahl. Olaf Scholz triumphierte, und die Grünen landeten in der Opposition. Hajduk stellte sich der Verantwortung.
Sieg und Niederlage kennt die Grüne also nicht nur vom Fußballtipp. „Damals habe ich überlegt, ob ich in der Politik bleibe“, sagt Hajduk, als der Zug die Stadt längst verlassen hat. Sie sagt nicht: Ich habe überlegt, aus der Politik auszusteigen, alles an den Nagel zu hängen. Sie formuliert positiv. Hajduk ist eine Kämpferin, eine mit einem hohen Pflichtbewusstsein zudem. Zeit, ihr Verhältnis zur Macht zu klären, Zeit, das Tonband anzuschalten.
Hamburger Abendblatt: Wir sitzen im Zug zur Macht – nach Berlin. Was bedeutet Ihnen Macht in der Politik, Frau Hajduk?
Hajduk: Macht gehört zur Politik. Es geht ja darum, für die Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Und da ist Berlin natürlich das Zentrum.
Das Problem ist aber, dass die Grünen bei dieser Bundestagswahl keine wirkliche Machtoption haben.
Hajduk: Die Umfragesituation ist nicht so knapp und zugespitzt, wie ich mir das gewünscht hätte. Ich merke in Gesprächen aber auch, dass viele Menschen mit der CDU/FDP-Koalition unzufrieden sind. Trotzdem sind wir nicht getragen von der Sicherheit, man könnte den Wechsel leicht schaffen. Wir müssen sehr hart arbeiten, um ein gutes Ergebnis zu erzielen.
Wenn es für Rot-Grün nicht reicht, wird es vermutlich eher an der SPD liegen, weniger an den Grünen. Was macht die SPD, was macht Peer Steinbrück falsch?
Hajduk: Wenn man das so einfach sagen könnte, könnte man ihm ja Bescheid geben. Viele vermissen die Polarisierung. Es ist schon paradox, denn bei vielen Themen, wie zum Beispiel Mindestlohn oder Leiharbeit, gibt es sehr unterschiedliche Positionen zwischen Regierung und Opposition. Aber es gibt nicht den klaren Impuls für einen Regierungswechsel. Steinbrück hat jetzt richtig gut im TV-Duell abgeschnitten. Das hat wohl damit zu tun, dass vieles von dem, was er und auch wir vorschlagen, absolut mehrheitsfähig in der Gesellschaft ist.
Aber Angela Merkel macht es der SPD auch deswegen schwer, weil sie deren Positionen übernimmt.
Hajduk: Merkel saugt das auf. Sie mutet es der CDU zu, SPD-Positionen zu schlucken, um bei gesellschaftlich mehrheitsfähigen Themen die Andeutung zu machen: Das könntet ihr vielleicht auch mit uns bekommen. Bei der Einführung der Mietobergrenze habe ich gedacht: Das ist nicht wahr. Oder die 180-Grad-Wende in der Energiepolitik nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima.
Also ist eigentlich Merkel schuld und nicht die SPD.
Hajduk: Frau Merkel ist ein schwerer Gegner. Ihr hilft, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt relativ günstig ist. Sie profitiert von Reformdividenden von Vorgängerregierungen.
Ist die Bundeskanzlerin nicht die Machtpolitikerin par excellence?
Hajduk: Angela Merkel ist so geschmeidig, dass niemand weiß, wofür sie eigentlich steht. Ich finde, man muss in der Politik auch einen klaren Kompass haben.
Gut, das war jetzt keine direkte Antwort auf die Frage, aber das Ja schimmert immerhin durch. Dass Hajduk für Merkels Form der Machtausübung keine Bewunderung hegt, darf ja nicht überraschen. Festzuhalten bleibt, dass diese Grünen-Politikerin mit bemerkenswerter Klarheit und ohne Scheu über Macht in der Politik spricht. In den Anfangsjahren und lange danach war der Begriff der Macht in der Umweltpartei beinahe tabuisiert. Macht galt als verdächtig und roch nach Missbrauch. Hajduk gehörte den Realos an, als es noch Flügel bei den Grünen gab, und fetzte sich mit den Fundis. Die Politik der Realos war pragmatisch, kompromissbereit und zielte letztlich auf eine Regierungsbeteiligung, also auf Teilhabe an der Macht.
Als Wahlkämpferin fühlt sich Hajduk in ihrem Element. „Ich will erklären, will überzeugen“, sagt sie. Die Auseinandersetzung mit den Argumenten anderer sei motivierend. Und sie sagt auch Sätze wie diesen: „Es macht mir Spaß auszutesten, wie viel Einfluss man hat.“ Natürlich geht es ihr um mehr, darum, Einfluss zu nehmen, um die Gesellschaft in ihrem Sinn zu gestalten. Ein Begriff taucht immer wieder auf, wenn diese ernst und sachlich wirkende, selbstbewusst auftretende Politikerin über sich spricht: Verantwortung. „Ich habe Lust an der Verantwortung“, bekennt sie einmal. Nach der Bürgerschaftswahl 2008 gab es in Hamburg eine rechnerische Mehrheit für ein Bündnis von CDU und Grünen. Ein Experiment. „Ich habe die Verantwortung für Schwarz-Grün gespürt und hatte die Wahrnehmung, dass es wichtig wird, nach Hamburg zurückzukehren“, sagt Hajduk heute. Die Sache ging bekanntlich krachend zu Ende, Grund genug nachzuhaken.
War Schwarz-Grün richtig – auch aus heutiger Sicht?
Hajduk: Darüber habe ich viel nachgedacht. Es war richtig, dass wir uns damals nicht ernsten Gesprächen entzogen haben. Es war aus grüner Sicht ein guter Koalitionsvertrag. Das Ende bedenkend: Es war sehr schade, dass es uns nicht gelungen ist, unsere bildungspolitischen Vorstellungen mehrheitsfähig zu machen. Darüber haben wir ja auch selbstkritisch geredet.
Der Koalitionsvertrag ist das eine. Das Problem war doch eher, dass Ole von Beust seiner Partei zu viel zugemutet hat – etwa mit der Primarschulreform.
Hajduk: Wir hätten bei der Primarschule viel früher auf einen Kompromiss hinarbeiten müssen. Das sehe ich heute viel klarer. Es wäre auch nicht verkehrt gewesen, wenn von Beust von sich aus diesen Kompromiss mehr eingeklagt hätte. Wir haben uns zu wenig beweglich gezeigt. Gemessen daran, wie wichtig uns es war, die Koalition positiv mit Leben zu füllen, haben wir damit einen dicken Fehler gemacht. Und zwar alle zusammen.
Sie zählten dann zu denjenigen, die die Trennung von der CDU im November 2010 vorangetrieben haben, als andere Parteifreunde noch an ihren Ämtern klebten. Gehört es zu Ihrem Selbstverständnis, die Macht auch freiwillig loslassen zu können?
Hajduk: Ja. Ich habe das als meine Verantwortung gesehen und damals einigen Leuten viel zugemutet. Es gehört zum politischen Geschäft, auch harte Entscheidungen zu treffen, dies war eine der allerschwersten. Der Autoritätsverfall der Regierung war dramatisch, gerade nach der Neuaufstellung der CDU infolge des Rücktritts von Ole von Beust. Große Entscheidungen für Hamburg brauchen aber eine Regierung mit Autorität. Die sah ich nicht mehr gegeben. In dieser Situation hatte ich das Gefühl, dass wir als Grüne unsere Glaubwürdigkeit in solch einem Bündnis verlieren.
Wer mit Anja Hajduk länger spricht, dem fällt ihre Nachdenklichkeit und die Konzentration auf, mit der sie jeden ihrer Sätze formuliert. Die ausgebildete Psychologin ist fraglos eine Kopf-Politikerin. Ja, bekennt sie, sie mag „Komplexität und einen gewissen Abstraktionsgrad“ von Problemen und Diskussionen. Und sicher, die parlamentarische Auseinandersetzung in Berlin ist eine andere als in der Hamburgischen Bürgerschaft. Hajduk spielt auf das unterschiedliche Niveau mancher Debatten an, aber das sagt sie so klar nicht. Dass sie sich auf den Bundestag freut, sagt sie allerdings deutlich.
Über ihre öffentliche Wirkung als rationale und kontrollierte Politikerin wundert sich die Grüne stets ein wenig. „Ich bin ein humorvoller und temperamentvoller Mensch“, sagt Hajduk, die eine Gesangsausbildung absolviert hat und einst beim Ascot Musiktheater mitwirkte, das Operetten und Revuen auf kleine Bühnen brachte. Legendär sind Hajduks Auftritte bei Festen der Grünen. Zum 25. Jubiläum der Grünen-Fraktion, das groß im Schmidt Theater am Spielbudenplatz gefeiert wurde, sang sie den Frank-Sinatra-Song „My Way“, trug eine Pagenkopfperücke, ein schwarzes Kleid und hatte sich eine grüne Federboa um den Hals geschwungen. „Ich saß neben Fraktionschef Jens Kerstan. Der hat mich nicht erkannt“, sagt Hajduk und freut sich diebisch.
Der Zug nähert sich Berlin. Bleibt die Frage, in welcher Rolle sie sich im Bundestag sieht, in den sie praktisch sicher zurückkehren wird. „Ich will meine Regierungserfahrung und Führungsverantwortung gern in die Fraktion einbringen“, sagt Hajduk. „Aber es werden in der Politik keine Plätze freigehalten.“ Deswegen gehe sie „mit großer Offenheit und Gelassenheit da rein“.
Berlin, Hauptbahnhof. Hajduk steigt aus, stellt den Rollkoffer auf den Bahnsteig und geht entschlossenen Schrittes los. Berlin kann kommen.