Hamburg. Den Betrieben fehlt Nachwuchs, sie stöhnen unter Vorschriften. Hjalmar Stemmann über notwendige Zuwanderung und zeitraubende Auflagen.
Lahmende Konjunktur, Fachkräftemangel, kaum Wohnraum für Mitarbeiter, ein Wust an Vorschriften: Die Stimmung im Hamburger Handwerk war schon mal besser. Vor der Jahresschlussversammlung der Kammer an diesem Freitag mit mehr als 200 Gästen, darunter Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), sprach das Abendblatt mit Handwerkskammer-Präsident Hjalmar Stemmann über das neue „Handlungsprogramm“ der Kammer.
Abendblatt: „Handlungsprogramm“ klingt nach Wahl- oder Regierungsprogramm, wie es Parteien derzeit vorstellen. Möchte die Handwerkskammer zur Bürgerschaftswahl antreten?
Hjalmar Stemmann: Nein, im nächsten Jahr treten wir nicht zur Bürgerschaftswahl an (lacht). So ein Handlungsprogramm haben wir schon zum dritten Mal erstellt. Das geschieht alle fünf Jahre, immer nachdem wir unsere neue Vollversammlung gewählt haben. Sie beschließt dann diese Leitlinien, die skizzieren, was wir in den nächsten fünf Jahre erreichen wollen – nach innen und nach außen.
Was Handwerks-Präsident Hjalmar Stemmann am meisten nervt
Eingangs heißt es in dem Programm: „Die Welt ist im Wandel“. Welcher Wandel macht Ihnen am meisten Sorgen?
Im Moment die Unberechenbarkeit. Die Unberechenbarkeit der umwälzenden Neuerungen, auf die wir uns sehr schnell werden einstellen müssen. Als ich zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, hatten wir ein Dreivierteljahr später die Corona-Pandemie, die alles auf den Kopf gestellt hat, mit Lockdown, Tätigkeitsverboten und vielem mehr. Dann kam relativ plötzlich der Ukraine-Krieg, der große Schockwellen über die ganze Wirtschaft und auch das Handwerk gebracht hat – durch gestörte Lieferketten, steigende Zinsen und das Wegbleiben von Fachkräften, die aus Osteuropa kamen.
Und welchen Wandel in der Zukunft fürchten Sie am meisten?
Fürchten ist das falsche Wort, was uns bewegt, sind die „drei D“: Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung. Zu Punkt eins: Viele gute, erfahrene Mitarbeiter werden in den nächsten Jahren aus den Handwerksbetrieben ausscheiden, und es werden weniger nachkommen – zum Beispiel, weil wir nicht alle Ausbildungsstellen besetzen können. Die Digitalisierung sehen wir als Chance, aber auch sie bringt einen umfassenden Wandel mit sich.
Wachsender Extremismus bereitet Handwerkskammer Sorgen
Und Dekarbonisierung, also der Wandel von fossilen zu nachhaltigen Energien?
Dass die Dekarbonisierung stattfinden muss, ist keine Frage, dem stellen wir uns. Die Frage ist aber einerseits, was wir im Handwerk als Dienstleister tun müssen und können, damit globale Ziele erreicht werden können – etwa bei der Dämmung von Gebäuden oder beim Einbau von Wärmepumpen. Dafür braucht es ja Handwerksbetriebe mit entsprechend ausgebildetem Personal. Und zweitens müssen die Betriebe bei sich selbst schauen, wie sie ihren eigenen CO2-Fußabdruck reduzieren können, um selbst nachhaltiger zu werden. Daneben gibt es weitere Themen.
Zum Beispiel?
Etwa der wachsende Extremismus in unserer Gesellschaft. Dazu hat sich unserer Vollversammlung ja klar positioniert: Im Handwerk arbeiten dermaßen viele Menschen aus vielen Nationen zusammen, und diese Menschen brauchen wir alle, sie arbeiten gut zusammen. Was wir nicht brauchen, ist eine Differenzierung in Menschen, die wünschenswert sind und solche, die weniger wünschenswert sind – das lehnen wir grundsätzlich ab.
Integration von Flüchtlingen: Dänemark könnte Vorbild sein
Die politische Stimmung aber kippt eher in Richtung einer Begrenzung von Zuwanderung. Inwiefern macht Ihnen das Sorgen?
Uns macht vielmehr Sorgen, dass wir Menschen, die schon hier sind, nicht schnell genug in den Arbeitsmarkt hineinbekommen. Wir glauben, dass wir eine viel höhere Integrationsleistung hätten und weniger gesellschaftlichen Druck, wenn wir diesen vielen Menschen die Aufnahme einer Tätigkeit ermöglichen würden. Natürlich braucht man dafür Grundkenntnisse der Sprache, in diesem Fall Deutsch. Aber sobald diese Grundkenntnisse da sind, müssen diese Menschen in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Die Betriebe stehen dafür bereit.
Taugt Dänemark als Vorbild? Dort sind unter den geflüchteten Menschen aus der Ukraine mehr als 50 Prozent berufstätig, bei uns nur halb so viele.
Ja. In Dänemark wird viel weniger auf Formalqualifikation geachtet, wodurch die Menschen viel schneller kompetenzbezogen in den Arbeitsmarkt kommen. Natürlich sollte keine Krankenschwester auf den Bau vermittelt werden, aber wer in der Ukraine Maurer war, kann hier genauso gut Maurer werden.
Es kommen weniger Fachkräfte nach als die Berufe verlassen
Die Zuwanderung ist ja auch verknüpft mit dem Thema Fachkräftemangel: Muss ich als Kunde befürchten, dass ich bald keinen Elektriker, Maler oder Heizungsmonteur mehr finde?
Wir setzen darauf, dass Demografie und Digitalisierung sich im positiven Sinn ergänzen. Ja, es kommen definitiv weniger Fachkräfte nach als die Berufe verlassen. Daher können wir nur hoffen, dass die Digitalisierung bestimmte Standardaufgaben so weit vereinfacht oder ersetzt, dass die weniger werdenden Fachkräfte sich auf das konzentrieren können, was wirklich Handwerk ist, was also von Hand erledigt werden muss.
An welchen Stellen soll das möglich sein? Das Handwerk heißt ja nicht umsonst Hand-Werk ...
Es tut sich eine Menge. Viele Betriebe setzen bereits 3D-Fräsen oder 3D-Drucker ein. Aufmaße werden zunehmend mit digitalen Hilfsmitteln gemacht – indem etwa Drohnen ein Dach abfliegen und vermessen, wie viel Holz und Dachziegel benötigt werden. Früher musste dafür jemand mit dem Maßband aufs Dach klettern. Oder Malroboter, die in Neubauten große Flächen mit Farbe besprühen: Diese Geräte ersetzen Fachkräfte, die dann frei sind für Arbeiten, die noch von Hand erledigt werden müssen.
„Monster-Bürokratie“: Muss ein Leiterbeauftragter wirklich sein?
Im Programm der Handwerkskammer wird mehrfach die „Monster-Bürokratie“ beklagt. Das zielt vor allem auf die Summe der Vorschriften ab, aber mal konkret gefragt: Welche nervt Sie als Inhaber eines Handwerksbetriebes am meisten?
Vor allem Dokumentationsregeln zu Prüfungen, die wir andauernd vornehmen müssen. Beispiel eins: Ich muss von Mitarbeitern, die mit Firmenfahrzeugen oder im Auftrag der Firma unterwegs sind, zweimal im Jahr die Führerscheine überprüfen und das dokumentieren. Beispiel zwei: Ich muss im Betrieb regelmäßig die Leitern überprüfen lassen – egal, ob ich die im Alltag einsetze wie etwa ein Malerbetrieb oder ob die nur gelegentlich genutzt werden, um mal etwas aus einem Regal zu holen. Der Mitarbeiter muss vorher eine Fortbildung bei der Berufsgenossenschaft oder beim TÜV zum „Leiterbeauftragten“ gemacht haben und ich muss ein „Leiter-Buch“ führen. Ich bin ein großer Anhänger von Arbeitssicherheit, aber da fragt man sich schon: Muss das sein?
Wer ist denn der böse Bube? Der Senat hat kürzlich 80 Maßnahmen zum Bürokratieabbau vorgelegt und dabei betont, für die Masse der Vorschriften und Regeln sei nicht die Stadt verantwortlich, sondern EU und Bund. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?
Ja, es gibt eine deutliche Kaskade: Viele Regeln stammen aus europäischen Verordnungen oder Gesetzen, die dann in nationales Recht umgesetzt werden. Daher sind EU und Bund auf jeden Fall die Treiber der Bürokratie. Aber es gibt auch landesspezifische Auflagen, die wir erfüllen müssen. Dass der Senat, übrigens nach Rücksprache mit uns, mit gutem Beispiel vorangeht, diese durchforstet und Erleichterungen prüft, begrüßen wir natürlich. Aber das müsste noch in viel größerem Umfang geschehen. Und eines darf gar nicht mehr geschehen ...
... nämlich?
Wenn es Vorgaben aus der EU gibt, werden die in Deutschland gern noch mit Goldlack überzogen und ein paar Anforderungen hinzugefügt, die nur hier erfüllt werden müssen. Das benachteiligt uns gegenüber anderen Ländern und muss aufhören. EU-Gesetze dürfen bestenfalls eins zu eins umgesetzt werden. Noch besser wäre: Wenn es eine neue Regel gibt, muss eine alte abgeschafft werden. Oder besser gleich zwei.
Betriebe drohen mit Abwanderung ins Hamburger Umland
Stichwort Flächenmangel: Die Kammer warnt in ihrem Programm davor, dass Betriebe ins Umland abwandern könnten. Wie groß ist das Problem?
Das kommt immer wieder mal vor. Ich weiß von Betrieben, die in den Vier- und Marschlanden einen Handwerkshof gründen wollten. Weil es immer neue Auflagen und Fragen seitens der Behörden gab, sind einige inzwischen abgesprungen und ins schleswig-holsteinische Umland gegangen. Für Hamburg bedeutet das: weniger Steuereinnahmen, mehr Verkehr. Denn der Betrieb fährt dann künftig mit seinen Fahrzeugen von außerhalb zu den Kunden in der Stadt.
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Hinzu kommt: Im Umland ist das Wohnen günstiger, was es den Betrieben erleichtert, Personal zu finden. Das beklagt nahezu die gesamte Hamburger Wirtschaft. Was muss aus Sicht der Handwerkskammer getan werden?
Das fängt an mit Wohnraum für Auszubildende. Es gibt nur für rund drei Prozent von ihnen Wohnheimplätze in Hamburg – aber für mehr als sieben Prozent der Studenten. Auch daher haben wir in den vergangenen Jahren deutlich weniger Bewerber aus dem Umland und aus dem gesamten Bundesgebiet – was einhergeht mit dem Rückgang der Auszubildenden insgesamt. Wir könnten viel mehr Ausbildungsplätze besetzen, wenn wir den Menschen günstigen Wohnraum anbieten könnten. Und dieses Problem setzt sich fort bei den Gesellen und hört auch bei den Meistern nicht auf.
Viele Handwerker finden keine bezahlbare Wohnung in Hamburg
Gleichzeitig stockt der Wohnungsbau.
Ja. Das alte Ziel, 10.000 neue Wohnungen pro Jahr zu schaffen, ist zwar derzeit kaum erreichbar. Aber der Senat sollte auf jeden Fall daran festhalten. Das ist auch ein Konjunkturmotor für das Baugewerbe.
Die Betriebe könnten auch selbst Wohnraum schaffen. Die Hochbahn hat noch Tausende Werkswohnungen, die Haspa baut gerade ein Azubiwohnheim, das Bauunternehmen Otto Wulff plant Mitarbeiterwohnungen.
Diese Unternehmen gehören alle zu den größeren in Hamburg und haben oft eigene Flächen zur Verfügung. Im Handwerk ist das selten der Fall: Der durchschnittliche Hamburger Handwerksbetrieb hat zehn Mitarbeiter und ist finanziell kaum in der Lage, Millionen Euro in Wohnraum zu investieren.
Bekomme ich in Hamburg bald keinen Maler oder Elektriker mehr?
Ende Februar/Anfang März werden Bundestag und Bürgerschaft neu gewählt. Geben Sie eine Empfehlung ab, wen sie sich als Bundesregierung oder als neuen Senat wünschen?
Nein. Jeder soll seine Wahl persönlich treffen. Aber wir haben den Parteien Wahlprüfsteine geschickt und befassen uns gerade mit den Antworten. Diese werden wir veröffentlichen, und dann kann jeder und jede darauf schauen und entscheiden, welche Partei am ehesten die Interessen des Handwerks vertritt.