Hamburg. Firmen müssen bis Sommer Internetauftritt so gestalten, dass Menschen mit Behinderung diesen nutzen können. Ein unterschätztes Problem.

„Das in den nächsten Monaten umzusetzen, wird uns locker eine halbe Million Euro kosten“, sagt Ralf Paulsen (Name geändert). Er arbeitet für ein großes norddeutsches Unternehmen mit einer weitverzweigten Website-Architektur und hat nun mit Kollegen aus der IT-Abteilung die Aufgabe, den gesamten Onlineauftritt der Firma mit dem sogenannten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Einklang zu bringen. Offen gibt er zu: „Das haben wir alle hier bislang etwas unterschätzt.“ Deshalb möchte er seinen echten Namen und den seiner Firma nicht öffentlich machen.

So wie Paulsen geht es derzeit offenbar zahlreichen Projektverantwortlichen in Hamburg und dem Rest der Republik. Sie haben das Thema lange vernachlässigt und richten nun etwas panisch den Fokus auf den 28. Juni 2025, an dem das neue Gesetz in Kraft tritt. Es schreibt vor, dass Websites, Webshops, E-Books und E-Reader so gestaltet sein müssen, dass auch Menschen mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen die Angebote nutzen können. Ausgenommen von der Regel sind lediglich Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und höchstens zwei Millionen Euro Jahresumsatz.

Hamburger Unternehmen betroffen: Barrierefreiheit im Internet soll durch neues Gesetz gestärkt werden

Einer, der als Consultant derzeit von der allgemeinen Ratlosigkeit profitiert, ist Marcus Dreyer. Er ist Director User Experience (UX) bei einer Tochterfirma der PPI AG in Hamburg. Das Beratungs- und Softwarehaus beschäftigt mehr als 800 Mitarbeiter – davon 422 in der Hansestadt – und ist seit über 40 Jahren für Finanzdienstleister tätig. Mittlerweile hat die AG einige Tochterunternehmen für neue Branchen ausgegründet, darunter Crossnative, wo Dreyer tätig ist. „Knapp ein Drittel meiner täglichen Arbeit dreht sich derzeit um Fragen zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“, sagt Dreyer beim Gespräch mit dem Abendblatt. „Vor wenigen Tagen haben wir ein Webinar veranstaltet, allein dabei waren schon rund 200 Teilnehmer zugeschaltet, viel mehr als erwartet.“

Die Anfänge des BFSG reichen zurück ins Jahr 2019, als die EU mit der Verabschiedung des European Accessibility Act nach Wegen gesucht hat, Menschen mit Beeinträchtigungen die Teilhabe an möglichst allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu erleichtern. Im Juni 2022 wurde dann im Bundestag das nationale Gesetz verabschiedet, dessen Maßnahmen innerhalb von drei Jahren umgesetzt sein müssen. Diese sind vielfältig und gelten für den Onlinehandel, für Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr, Websites im Bereich Reisen und Mobilität, Kartenlesegeräte, Geld- und Bankautomaten, E-Books und vieles mehr, auch im analogen Bereich.

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Marcus Dreyer von der PPI AG in Hamburg berät derzeit viele Firmen bezüglich der Barrierefreiheit ihrer Webseiten.  © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Obwohl sich Sozial- und Fachverbände vom Gesetzgeber noch mehr Maßnahmen zur physischen Barrierefreiheit gewünscht hatten, als nun vorgeschrieben werden, sind zumindest in Sachen Onlinepräsenz die Weichen gestellt. Das hat Folgen, denn bereits vom Sommer an könnten Firmen, die noch nicht die Vorschriften des BFSG erfüllen, von spezialisierten Anwälten abgemahnt werden. Und so was kann auf Dauer ziemlich teuer werden.

Experte zieht Vergleich zur Einführung der Datenschutz-Grundverordnung

„Mancher erinnert sich noch an die sogenannte Datenschutz-Grundverordnung, kurz DSGVO. Auch bei deren Einführung gab es große Unsicherheit und hohen Beratungsbedarf“, sagt Dreyer. Heute sind bei Verstößen gegen die DSGVO empfindliche Strafen möglich, die bis zu vier Prozent des Jahresumsatzes betragen können. „Das wird beim BFSG zwar anfangs wahrscheinlich nicht passieren, aber es kann durchaus sein, dass nicht konforme Bereiche bei andauernder Zuwiderhandlung bis zur Nachbesserung abgeschaltet werden müssen“, so der Hamburger Experte. Und das bedeutet dann oft einen Umsatzausfall.

Rechtsanwältin Nina Hiddemann hat dazu auf der Plattform anwalt.de ein paar Erläuterungen bezüglich möglicher juristischer Konsequenzen parat. „Kommen im Internet präsente Anbieter den gesetzlichen Anforderungen nicht nach, schreitet die zuständige Marktüberwachungsbehörde ein. Ergibt eine Prüfung, dass Anforderungen nicht umgesetzt wurden, fordert sie zunächst auf, die Konformität herzustellen.“ Geschehe das nicht fristgerecht, könne die Behörde nicht nur die Einstellung des Dienstes anordnen, sondern zusätzlich Bußgelder bis zu 100.000 Euro verhängen.

Onlinedienstleister wie etwa Reiseveranstalter, Banken oder Versicherungen sowie Onlineshops, die nicht als Kleinstunternehmen gelten, müssen sich also schleunigst kümmern, falls sie es noch nicht getan haben. Doch was ist konkret zu tun, um digitale Barrierefreiheit zu erreichen?

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz macht Umbauten an vielen Websites nötig

Zunächst einmal müssen das Design und die Struktur der Website sicherstellen, dass Menschen mit eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen in der Lage sind, Webinhalte effektiv zu nutzen. Konkret geht es darum, dass neben ausreichenden Farbkontrasten passende Textbeschreibungen für Fotos, Videos und Grafiken vorliegen. Zudem müssen alle Texte so dargestellt werden, dass ein Screenreader diese in sinnvoller Abfolge vorlesen und damit sehbehinderten Nutzern zugänglich machen kann. Auf Blink- und Flackereffekte soll verzichtet werden, da diese zum Beispiel Epilepsie auslösen können.

Bei online auszufüllenden Formularen gibt es ebenfalls diverse Anforderungen, die bislang oftmals nicht umgesetzt werden. Hier muss vor allem Rücksicht genommen werden auf Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen, die womöglich nicht in der Lage sind, eine Computermaus zu bedienen und stattdessen eine Tastatur nutzen.

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„Allein um zu prüfen, inwieweit die eigenen Websites all diese Erfordernisse schon erfüllen, braucht man bei einfachen Fällen einen halben Tag pro einzelner Seite, bei vielen Verlinkungen auch mal einen Tag“, sagt UX-Experte Dreyer. Das gehe nämlich nicht vollautomatisch mit zugekauften Programmen, sondern erfordere zusätzlich menschliche Expertise. „Heutige Programme finden höchstens 35 bis 40 Prozent der Fehler. Oft sehen wir bei unseren Analysen, dass immer noch Texte auf Bildern platziert werden oder Elemente, die inhaltlich eigentlich zusammengehören, zu weit auseinanderstehen“, sagt Dreyer.

Gesetz zur Barrierefreiheit: Umstellung kann Firmen viel Geld kosten

Und das sind nur zwei Fehlerbeispiele von vielen. Entsprechend hoch ist dann der finanzielle IT-Aufwand, um alle Mängel in den nächsten Monaten gesetzeskonform umzustellen. Auch wenn das nicht überall gleich 500.000 Euro kosten muss.