Hamburg. Der Zensus kommt Hamburg teuer zu stehen – die Hintergründe und Details. Zieht der Senat wieder vor das Verfassungsgericht?

Der aktuelle „Zensus 2022“, nach dem die Einwohnerzahl Hamburgs um fast 64.000 Menschen auf 1,81 Millionen nach unten korrigiert wurde, hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Stadt. Wie die Finanzbehörde auf Abendblatt-Anfrage mitteilte, entgehen Hamburg dadurch rund 190 Millionen Euro im Jahr – Geld, das möglicherweise irgendwo eingespart werden muss.

Der Behörde zufolge setzt sich die Summe zusammen aus rund 130 Millionen Euro, die die Hansestadt mehr in den Länderfinanzausgleich einzahlen muss und 60 Millionen Euro, die man bei der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verliere. Wie das kompensiert werden soll, ist noch offen.

Zensus: Hamburg gehen 190 Millionen Euro pro Jahr verloren

„Die Zensus-Ergebnisse können auch Auswirkungen auf den Steuertrend haben“, sagte Finanzsenator Dressel Andreas (SPD). Dieser Trendwert, der die realen Einnahmen der vergangenen 14 Jahre in die Zukunft fortschreibt, ist die Basis für die Haushaltsplanung des Senats. Für den kürzlich vorgestellten Haushaltsplanentwurf 2025/2026 besteht laut Finanzbehörde zwar noch kein Korrekturbedarf.

Dennoch gilt: „Inwieweit das weitergehende Folgen hat und sogar geringfügige Konsolidierungsbedarfe auslöst, hängt von den realen Steuereinnahmen im Übrigen ab“, so Dressel. 190 Millionen Euro entsprechen knapp einem Prozent des Hamburger Haushaltsvolumens von 20 Milliarden Euro – eine Summe, die die Stadt nicht umwerfen, aber eine spürbare Lücke reißen würde.

Gegen den Zensus 2011 zog Hamburg bis vors Verfassungsgericht

Offen ließt die Finanzbehörde noch, ob der Senat erneut juristisch gegen den Zensus vorgehen wird: „Für eine vertiefende Analyse der Zensus-Ergebnisse fehlen noch methodische Informationen. Der Senat wird sich damit befassen, wenn vom Statistikamt die nötigen Informationen vorliegen.“

Beim letzten Zensus 2011 war Hamburgs Einwohnerzahl sogar um knapp 83.000 Menschen oder 4,6 Prozent von 1,789 auf 1,706 Millionen nach unten korrigiert worden. Wegen der enormen finanziellen Auswirkungen und weil man die Methoden anzweifelte, hatte der damalige Finanzsenator und heutige Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zusammen mit dem ebenfalls betroffenen Land Berlin eine Klage angestrengt, die letztlich 2018 vor dem Bundesverfassungsgericht entschieden wurde – zuungunsten der beiden Stadtstaaten.

Fast alle Großstädte haben durch den Zensus Einwohner verloren

Der aktuelle Zensus zum Stichtag 15. Mai 2022 hat die Bevölkerungszahl in Deutschland um rund 1,4 Millionen Einwohner oder 1,6 Prozent auf 82,7 Millionen Menschen nach unten korrigiert. Dabei haben erneut die Großstädte überproportional verloren: Köln schrumpfte am stärksten um 5,9 Prozent, Hamburg und Berlin je um 3,5 Prozent und München immerhin um 2,0 Prozent. Lediglich für Dortmund (plus 0,9 Prozent) und Bremen (plus 1,8) wurde die Einwohnerzahl nach oben korrigiert.

Dabei gilt für Hamburg wie für fast alle anderen Städte und Kommunen, dass die Bevölkerungszahl seit dem Zensus 2011 zwar deutlich angestiegen ist – aber längst nicht so stark wie bisher angenommen. Hier wird es etwas knifflig, denn man muss zwischen zwei unterschiedlichen Methoden unterscheiden.

Laut Melderegister wohnten 1,96 Millionen Menschen in Hamburg

Die im Zensus 2022 dargestellten Verschiebungen beziehen sich auf die „amtliche Bevölkerungsfortschreibung“, die die Statistikämter durchführen. Demnach wohnten in Hamburg eigentlich bereits 1,875 Millionen Menschen – diese Zahl, die entscheidend für alle Bund-Länder-Finanzbeziehungen war, wurde nun auf 1,811 Millionen korrigiert.

Daneben führt jede Kommune ein eigenes Melderegister, in dem festgehalten wird, wer in ihrem Verbreitungsgebiet gemeldet ist. Und demnach wohnten in Hamburg rund um den Zensus-Stichtag sogar mehr als 1,96 Millionen Menschen. Den Wert für den 15. Mai 2022 konnte die zuständige Wissenschaftsbehörde zwar nicht nennen, aber am 30. Juni 2022, also nur sechs Wochen nach Zensus-Stichtag, habe man dem Statistikamt exakt 1.963.979 Einwohner gemeldet.

Wie können 150.000 Hamburger einfach verschwinden?

Mit anderen Worten: Das Zensus-Ergebnis für Hamburg weicht um mehr als 150.000 Menschen vom Melderegister ab. Aber wie können 150.000 Hamburgerinnen und Hamburger, mehr als acht Prozent der Bevölkerung, einfach verschwinden?

Bürgermeister Peter Tschentscher (r.) und Finanzsenator Andreas Dressel (beide SPD) müssen überlegen, ob sie erneut gegen den Zensus vor Gericht ziehen.
Bürgermeister Peter Tschentscher (r.) und Finanzsenator Andreas Dressel (beide SPD) müssen überlegen, ob sie erneut gegen den Zensus vor Gericht ziehen. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Was die Sache noch verwirrender macht: Der Zensus basiert weitgehend auf den Melderegistern. Anders als früher bei der klassischen „Volkszählung“, als Behördenvertreter und Ehrenamtliche von Haustür zu Haustür gingen und Daten erfassten, spreche man heute von einem „registergestützten Zensus“, schreibt das Statistikamt Nord zu den Methoden und betont sogar: „Insbesondere wurden die Meldedaten aus den Registern der öffentlichen Verwaltung genutzt.“

Melderegister wurden um „Karteileichen“ bereinigt

Diese wurden aber mit verschiedenen Methoden bereinigt: So wurden Personen, die zwar im Melderegister existierten, aber nicht mehr an der dort geführten Anschrift lebten, als „Karteileiche“ eingestuft und aussortiert. Umgekehrt wurden Personen, die an einer bestimmten Anschrift lebten, jedoch nicht im örtlichen Melderegister geführt wurden, als „Fehlbestand“ deklariert und der jeweiligen Kommune zugeschlagen. „Jede Person existiert danach nur ein einziges Mal im bundesweiten Personenbestand“, so das Statistikamt.

Allerdings wurde das nur stichprobenartig überprüft. Eine „Vollerhebung“ sei nur in Wohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften vorgenommen worden, so die Statistiker. Darüber hinaus habe man zum Beispiel in Hamburg nur und 60.000 zufällig ausgewählte Haushalte um Auskunft gebeten – das waren rund sechs Prozent der eine Million Haushalte in Hamburg.

Wenn Flüchtlinge zurückkehren, melden sie sich nicht ab

Und wo sind nun die 150.000 Menschen geblieben? Dazu schreibt das Statistikamt Nord auf Abendblatt-Anfrage: „Die Melderegister verlieren mit der Zeit erfahrungsgemäß an Genauigkeit, unter anderem deswegen werden Zensus durchgeführt.“ Fehler in den Registern entstünden beispielsweise, wenn Personen oder ganze Familien ins Ausland verziehen, ohne sich abzumelden.

„In diesem Zusammenhang dürften auch die Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre eine zusätzliche Rolle spielen“, so das Statistikamt. Die häufig ausbleibende Abmeldung von ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern bei Rückzug in ihre Herkunftsländer sei ein bereits aus früheren Bevölkerungsuntersuchungen bekanntes Phänomen. Auch beim Zensus 2022 sei dies ein wesentlicher Faktor dafür gewesen, dass die Einwohnerzahlen sowohl bundesweit als auch insbesondere in den Großstädten nach unten korrigiert worden seien.

Auch Corona hat zu „Bevölkerungsbewegungen“ geführt

Eine Besonderheit beim Zensus 2022 sei die Corona-Pandemie gewesen, die zu Bevölkerungsbewegungen geführt habe: So habe sich beispielsweise der Online-Unterricht an Universitäten auf den regelmäßigen Aufenthaltsort der Bürgerinnen und Bürger ausgewirkt.

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Unterm Strich gelte: „Wie in den meisten Großstädten Deutschlands wurden auch in Hamburg mehr Karteileichen als Fehlbestände identifiziert. Daher musste die bisher angenommene Bevölkerungszahl nach unten korrigiert werden“, so das Statistikamt. Die Ergebnisse werde man „ausführlich“ mit der Stadt erörtern.

Schulbehörde vertraut lieber dem Melderegister als dem Zensus

Dafür dürfte es reichlich Bedarf geben. Denn wie die Finanzbehörde erklärte, haben die durch den Zensus festgestellten Einwohnerzahlen mannigfaltige Auswirkungen auf die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern. Von Kita-Qualität und Krankenhäusern über gemeinsame Forschungseinrichtungen bis hin zur Erstverteilung von Asylsuchenden – stets werden die Mittel auch nach Einwohnerzahl vergeben.

Die Hamburger Behörden vertrauen für ihre interne Planung dagegen meistens lieber dem Melderegister. So etwa bei der „Schulentwicklungsplanung“, die festlegt, wann wo neue Klassen oder ganze Schulen benötigt werden: „Wir orientieren uns an den real in Hamburg gemeldeten Kindern sowie den hiesigen Erfahrungs- und Entwicklungswerten sowie den erwarteten Neubauvorhaben“, so ein Sprecher der Schulbehörde. Die Zensus-Ergebnisse seien für die Schulentwicklungsplanung „nicht von Relevanz“.