Hamburg. Kathrin und Peter Röder haben 31 Jahre Feinkost-Salate auf dem Markt verkauft. Nun finden sie keine Nachfolger. Kein Einzelfall.

Der weinrote Marktwagen steht jetzt auf der Einfahrt hinter dem Haus in Bramfeld. „Röder’s Salate“ steht draußen dran. Die Türen sind zu. Drinnen ist schon alles fast ausgeräumt. Die Edelstahlflächen blitzen sauber. „Nudelsalat 100g 1,10 Euro“ steht auf einem Zettel an der Rückwand. Krautsalat kostet 95 Cent. Auf der Waage klebt die Liste mit den Artikelnummern. Eiersalat, Fleischsalat, Räucherfisch und natürlich ihre Spezialität: Krabbensalat. Insgesamt sind es mehr als 100 unterschiedliche Posten.

Wenn man Kathrin und Peter Röder nachts aus dem Tiefschlaf holen würde, könnten sie die meisten ohne Nachdenken eintippen. Aber das ist jetzt vorbei. Nie wieder morgens um 3.30 Uhr aufstehen, um 4 Uhr losfahren zum Wochenmarkt, die Auslage fertig machen und bis mittags hinter der Theke stehen und verkaufen. So mancher wäre froh. „Wir sind schon sehr wehmütig“, sagt Kathrin Röder. „Der Bramfelder Markt war für uns auch eine Familie.“

Wochenmärkte in Hamburg: „Bramfelder Markt war unser Leben“

Seit wenigen Tagen sind die Marktleute im Ruhestand. Dass sie aufhören, haben die Röders per Annonce im Hamburger Wochenblatt angekündigt. Und an ihrem letzten Tag waren sie alle noch mal da. 200, 300 Kunden und Wegbegleiter, so genau wissen sie es nicht. Es hat geschüttet. Richtiges Hamburger Schietwetter. Aber trotzdem sind sie mit Blumen gekommen, mit Pralinen, mit Abschiedskarten und Selbstgedichtetem. Einige haben gebastelt. Erinnerungen und gute Wünsche für die Zeit nach der Maloche.

Im Gegenzug gab es Geigenmusik, Quarkbällchen und einen Wodka-Cocktail mit Maracuja in Plastikeinwegspritzen. „Der Bramfelder Markt war 31 Jahre lang unser Leben“, sagt Peter Röder. Es gibt Kunden, die von Anfang da waren. Die jede Woche gekommen sind, manche auch zweimal. Da sind Beziehungen entstanden. „Wir wussten, wenn der Wellensittich Blähungen hatte“, sagt seine Frau und lächelt. Und dann kommen sie doch, die Tränen. Immer wieder nimmt sie einen der Danke-Briefe vom Wohnzimmertisch und liest.

„Es gab keine Resonanz“

Es ist wirklich zu Ende. Röder’s Salat gibt es nicht mehr. „Wir haben keinen Nachfolger gefunden“, sagt Peter Röder. Er ist 75 Jahre alt. Im vergangenen Jahr beschlossen sie, mit dem 66. Geburtstag von Kathrin Röder aufzuhören. Sie haben angefangen, jemanden zu suchen, der ihr Lebenswerk übernimmt. Tochter Carena arbeitet für die Körber-Stiftung. Die fiel aus, auch Enkelin Tinka macht etwas anders. Aber die Anzeigen auf verschiedenen Internetportalen, auf denen die Röders ihren Marktwagen angeboten haben, Aushänge, persönliche Kontakte und viele Gespräche haben nicht geholfen.

„Es gab keine Resonanz“, sagt Peter Röder. Dabei wollten sie nicht viel Geld für den Hänger – fast schon ein Oldtimer aus den 1980er-Jahren, gut gepflegt natürlich. Mit Rezepten und allem Wissen übers Marktgeschehen hätten sie alles für einen niedrigen Betrag hergegeben. „Es gibt kein schöneres Geschäft als auf dem Wochenmarkt“, sagen die Röders. „Aber das will heute kaum noch jemand machen.“ Das frühe Aufstehen, die Plackerei, die Auflagen, das Risiko. „Der Wochenmarkt hat es schwer gegenüber dem Supermarkt. Das wird nicht mehr, sondern weniger.“

Nachwuchssorgen sind kein Einzelfall

Wilfried Thal kennt zahlreiche Marktleute, die keine Nachfolger gefunden haben – auch wenn sie ein gutes Auskommen hatten. Der Präsident des Landesverbands des Ambulanten Gewerbes und der Schausteller nennt die aktuelle Entwicklung einen „wirtschaftspolitischen Gau“. Es fehle der Nachwuchs. Die junge Generation scheue sich vor den langen Arbeitszeiten, vor den unternehmerischen Unwägbarkeiten. Vor allem aber seien die hohen Auflagen für den Betrieb eines Marktstandes eine große Hürde bei einer Geschäftsübergabe.

Wareneingangskontrolle, Stundennachweise, Hygiene- und Reinigungsplan, Temperaturkontrollen, Verpackungsregister, Mitarbeiterschulungen, medizinische Ersthelferausbildung – alles muss dokumentiert werden. „Vieles davon ist sinnvoll, aber für große internationale Unternehmen gedacht. Für kleine regional arbeitende Marktstände sind die Regelungen unnötig und oft nur schwer umsetzbar. Die Geschäftsgrundlage wird immer mehr zerstört“, sagt Thal, der selbst mit seinem Obst- und Gemüsestand an vier Tagen in der Woche am Turmweg, in Fuhlsbüttel und Langenhorn auf dem Wochenmarkt steht. Um vor allem auch die selbst erzeugenden Betriebe auf den 80 Hamburger Wochenmärkten zu halten, müsse es Ausnahmeregelungen geben.

Pandemie kurbelte Geschäfte an

Zwar hat die Pandemie die Geschäfte der gut 453 Marktbeschicker in Hamburg wieder angekurbelt, aber inzwischen sind die Besucherzahlen deutlich gesunken. Die Umsätze liegen derzeit unter Vor-Corona-Niveau. Viele Märkte wirken am Wochenbeginn wie ausgestorben. In den Familien wird mittags weniger gekocht, weil die Eltern arbeiten und die Kinder in der Schule essen.

Auch die steigenden Preise spielen eine Rolle. Selbst der Isemarkt, mit einer Länge von 800 Metern Hamburgs größter Wochenmarkt und gerade wieder als einer der schönsten Deutschlands ausgezeichnet, ist nur noch am Freitag voll. Wenn der Kühlschrank fürs Wochenende gefüllt werden soll. Das hat Folgen. Nach den Zahlen der Handelskammer haben derzeit noch 233 Händler ein Geschäft mit Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakwaren an Verkaufsständen und auf Märkten in Hamburg angemeldet. 96 verkaufen Bekleidung und Schuhe und 124 sonstige Güter. Dazu kommen Händler aus den umliegenden Bundesländern.

Öffnungszeiten in Hamm-Nord auf Abend verschoben

Es ist ein bisschen wie mit Henne und Ei: Wenn die Kunden fehlen, sinkt das Interesse der Händler. Wenn keine interessanten Händler da sind, kommen weniger Kunden. Um die Attraktivität der Wochenmärkte zu erhöhen, hatte der Bezirk Mitte mit der Hamburg Kreativ Gesellschaft und dem Landesverband der Marktleute im vergangenen Jahr ein Pilotprojekt gestartet und einen Maßnahmenkatalog entwickelt. Unter anderem wurden darin Abendöffnungen, Probierstände und die Einführungen von Bonuskarten für die neun Märkte des Bezirks vorgeschlagen.

Nach einer Testphase werden jetzt auf dem Markt in Hamm-Nord die Öffnungszeiten in den Abend verschoben. „Das wurde gut angenommen“, sagt Bezirkssprecherin Sörina Weiland. Statt vormittags verkaufen die Marktleute dort jetzt von 15 bis 18.30 Uhr. Eigentlich war allerdings ein richtiger Abendmarkt geplant. Ein Probierstand, der schon an verschiedenen Standorten im Einsatz war, soll nach dem Sommer wieder starten.

„Wir haben uns das erkämpft“

Als die Röders 1990 in den Markthandel einstiegen, waren es noch ganz andere Zeiten. Kurz nach Öffnung der innerdeutschen Grenze liefen die Geschäfte wie von selbst. Peter Röder gab seinen Job als Versicherungsmakler auf, seine Frau machte den kleinen Imbiss in Bramfeld zu. Den Marktwagen kauften sie einem Händler ab, der sie mit Rezepten und Tipps unterstützte. „Viele Markthändler waren damals in den Osten gegangen, dadurch waren in Hamburg Marktplätze frei“, sagt Kathrin Röder, die offiziell die Inhaberin ist.

Bis zum Schluss haben sie und ihr Ehemann alle Salate in der kleinen Produktionsküche im Keller ihres Einfamilienhauses selbst produziert. Angefangen haben sie mit einem Tagesumsatz von 60 D-Mark. Zuletzt kamen an guten Tagen 200 Kunden, mit einem Durchschnittsbon zwischen sechs und acht Euro. „Wir haben uns das erkämpft“, sagt die Marktfrau, die lange auch in Steilshoop und Langenhorn auf dem Wochenmarkt stand. Irgendwann reichten die Einnahmen, um zwei Mitarbeiterinnen zu beschäftigen.

„Die Arbeitszeiten sind schon heftig“

Einer, dem der Marktstand praktisch in die Wiege gelegt wurde, ist Matthias Klinck. Vor 20 Jahren hat er den Obst- und Gemüsestand seiner Eltern übernommen. „Das war für mich gar keine Frage“, sagt der gelernte Industriekaufmann. Weil es eine Nachfolge in der Familie war, konnte er die Standorte dienstags und freitags auf dem Spritzenplatz und am Mittwoch und Sonnabend in der Neuen Großen Bergstraße in Altona weiterführen. „Die Arbeitszeiten sind schon heftig“, sagt der 46-Jährige, der mit Ehefrau und zwei Kindern in Jesteburg lebt.

Vor den Markttagen steht er abends um 22 Uhr auf, um auf den Großmarkt zu fahren. „Ich will schließlich genau wissen, was wir verkaufen.“ Schwerpunkte sind Produkte von regionalen Erzeugern. Um 5 Uhr geht der Aufbau des großen Standes los. Klinck liebt sein Geschäft – und er ist erfolgreich. Auch weil er nicht alles gelassen hat, wie es war. Schon vor zehn Jahren hat er angefangen, sich mit dem Lieferdienst Obstkorb ein zweites Standbein aufzubauen.

„Den Wochenmarkt wird es immer geben"

Inzwischen hat er seinen Marktplatz am Dienstag und Mittwoch aufgegeben. Heute bringen seine Transporter von Montag bis Donnerstag frisches Obst direkt zu Büroangestellten in ganz Hamburg. Freitag und Sonnabend verkaufen er und seine Mitarbeiter sein Frischeangebot auf dem Wochenmarkt. „Das ergänzt sich gut“, sagt der Familienvater. Er beschäftigt zwölf fest angestellte Mitarbeiter und je nach Saison zwischen 15 und 20 Aushilfskräfte. Sein Angebot reicht von regionalen Kartoffeln bis zu frisch geschnittener Ananas aus fernen Ländern. Vieles davon könnte man auch im Supermarkt oder Discounter kaufen.

Aber nicht so frisch, so verlässlich, so persönlich und mit so netter Stimmung. Nicht selten stehen mehr als zehn Kunden in der Schlange davor und warten geduldig, bis sie bedient werden. Es kann also durchaus funktionieren. „Markt ist mehr als Einkaufen“, sagt der Händler. Ein bisschen Lebensgefühl, ein bisschen Lifestyle, ein bisschen Freizeitbeschäftigung. Allen düsteren Prognosen der vergangenen Jahre zum Trotz ist Verbandschef Thal davon überzeugt: „Den Wochenmarkt wird es immer geben. Er erfindet sich immer wieder neu.“

Wochemärkte in Hamburg: Innovative Händler müssen her

Der Marktprofi plädiert dafür, dass man in der Zukunft mehr innovative Händler für die Wochenmärkte finden sollte. Was mit Espresso-Bars, Kräuter-Züchtern, Nudel-Macherinnen, Sanddorn-Verarbeitern oder besonderen Brotständen schon gut funktioniere, müsse weiter ausgebaut werden. Dabei geht um eines der heikelsten Themen der Branche, die Vergabe der Marktplätze. Zuständig sind die bezirklichen Fachämter für Verbraucherschutz, Gewerbe und Umwelt. Klar, dass es darum auch immer wieder mal Ärger gibt. Denn letztlich hängt das Geschäftspotenzial der Händler ganz entscheidend vom Standort ab.

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„Das Kapital sind die Kunden“, sagt Kathrin Röder. Vor allem die treuen Kunden. Welches Angebot es künftig auf ihrem Platz auf dem Bramfelder Wochenmarkt gibt, wissen die Röders nicht. Noch gibt es keinen Bewerber. Am gestrigen Freitag waren sie noch mal dort – mit einer großen Thermoskanne mit Kaffee für Kolleginnen. Und ein bisschen auch, um noch mal Abschied zu nehmen. „Unser Marktwagen war auch ein Treffpunkt. Das fehlt jetzt.“