Hamburg. Reiner Hoffmann spricht über die Folgen der Pandemie für das Arbeitsleben, Amazon und die Furcht vor einem digitalen Proletariat.
Am 1. Mai wird DGB-Chef Reiner Hoffmann (65) auf einer kleinen Kundgebung in Hamburg vor geladenen Gästen und unter strengen Hygieneregeln sprechen. Dem Abendblatt stand Deutschlands wichtigster Gewerkschafter kurz vor dem Tag der Arbeit in einer Videoschalte Rede und Antwort.
Hamburger Abendblatt: Wie arbeiten Sie in der Pandemie, vor allem im Homeoffice?
Reiner Hoffmann: Ich sitze vorrangig im Büro, habe täglich drei, vier Videokonferenzen. Auf Außenterminen bin ich so gut wie gar nicht mehr. Denn Konferenzen und andere Termine in Präsenz finden ja nun seit Langem kaum noch statt.
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Aber für unser Interview sitzen Sie im Homeoffice.
Hoffmann: Das stimmt, im Schnitt kommt das ungefähr einmal in der Woche vor, dass ich von zu Hause aus arbeite.
Was halten Sie vom Homeoffice als moderne Arbeitsweise des 21. Jahrhunderts?
Hoffmann: Grundsätzlich bietet das Homeoffice für Beschäftigte Chancen, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Außerdem fallen die Anfahrtswege zwischen Büro und dem eigenen Zuhause weg. Aber das Homeoffice kann kein Allheilmittel sein. Denn die Beschäftigten wollen auch die direkte Interaktion mit ihren Kollegen, einfach mal zusammen einen Kaffee trinken, gemeinsam in die Kantine gehen. Unter zu viel Homeoffice leidet am Ende die Kreativität. Deshalb darf es keine Pflicht zum Homeoffice geben mit der Folge, dass feste Arbeitsplätze im Betrieb verschwinden. Dann würde die morgendliche Arbeitsplatzsuche zur Reise nach Jerusalem, jeder muss sich täglich einen freien Schreibtisch suchen. Zudem muss es klare Arbeitszeitregeln geben. Homeoffice darf nicht dazu führen, dass Beschäftigte Tag und Nacht für ihren Arbeitgeber erreichbar sind.
Sollte es einen Rechtsanspruch für Beschäftigte auf Homeoffice geben?
Hoffmann: Einen solchen Rechtsanspruch halte ich für sinnvoll. Wird Homeoffice nicht gewährt, muss der Arbeitgeber nachvollziehbar begründen, warum er dies nicht genehmigen kann.
Wie wird die Pandemie Arbeit in Deutschland langfristig verändern?
Hoffmann: Fest steht: Es wird kein Zurück zum Status quo ante geben. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die Digitalisierung in der Arbeitswelt vorangetrieben werden muss. Die Gewerkschaften sind bereit, daran mitzuarbeiten, dass die Chancen der Digitalisierung auch nach Corona genutzt werden – zum Beispiel beim Homeoffice. Aber es gibt eben auch Risiken. Passen wir nicht auf, so ist das Risiko des Entstehens eines digitalen Proletariats groß. Schauen Sie auf Amazon: Das Unternehmen als großer Gewinner der Pandemie schert sich überhaupt nicht um Tarifverträge und gute Arbeitsbedingungen. Amazons Verhalten als Arbeitgeber ist für mich inakzeptabel. Ich denke an die vielen Soloselbstständigen, die sich als Click- und Cloud-Worker auf Online-Plattformen ihre Arbeit suchen müssen, aber in keinem sozialen Sicherungssystem sind. Das sind Entwicklungen, denen man Einhalt gebieten muss.
Bei Amazon ruft Ver.di gefühlt jede Woche zum Streik für einen Tarifvertrag auf, ohne Erfolg. Was sind die Gründe?
Hoffmann: In den vergangenen Jahren hat die Gewerkschaft dort schon einiges erreicht. Die Löhne sind gestiegen, es gibt in allen Amazon-Zentrallagern Betriebsräte, nur eben einen vollumfänglichen Tarifvertrag konnten wir bisher nicht durchsetzen, dazu können wir Amazon eben nicht zwingen. Zudem sind Organisationsgrad und Kampfbereitschaft der zersplitterten Belegschaft bei Amazon eine Herausforderung. Dort gibt es viele Beschäftigte, die Angst haben, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie sich an Protesten beteiligen. Das ist eine Amerikanisierung von Beschäftigungsverhältnissen, die wir in Deutschland nicht haben wollen.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Der Onlinehandel boomt in der Pandemie, der Einzelhandel stirbt. Sollte es eine Corona-Steuer für große Onlinehändler geben?
Hoffmann: Der Gedanke ist sympathisch, dürfte aber in der Umsetzung sehr schwierig werden. Für uns ist wichtig: Wer hohe Gewinne einfährt, soll auch ordentlich Steuern zahlen, egal zu welcher Branche er gehört. Deshalb legen wir großen Wert auf eine Austrocknung der Steueroasen. Außerdem setzen wir auf eine grundsätzliche Steuerreform. So brauchen wir bei der Einkommensteuer dringend eine Entlastung der geringen und mittleren Einkommen und eine zusätzliche Belastung der Spitzenverdiener. Zudem sollte es endlich wieder eine verfassungskonforme Vermögensteuer geben, die Kapitalertragsteuer darf nicht länger bei 25 Prozent eingefroren bleiben – und die großen Erbschaften müssen stärker als bisher besteuert werden. Zudem müssen wir die staatliche Schuldenbremse dringend reformieren. Nicht nur mit Blick auf die Sondersituation in der Pandemie brauchen wir in den nächsten Jahren finanziellen Spielraum. Wir haben riesige Investitionsbedarfe, etwa beim Ausbau erneuerbarer Energien, im Bereich unserer Infrastrukturen, in umweltfreundliche Verkehrssysteme oder in Bildung. Das Festhalten an der schwarzen Null ist eine Investitionsbremse.
Die Zahl der Lehrstellen sinkt, die Ausbildung kann in vielen Berufen – wenn überhaupt – nur digital stattfinden. Machen Sie sich Sorgen um die Qualität der Jahrgänge, die in der Pandemie ausgebildet werden?
Hoffmann: Ja, das bereitet mir große Sorgen. Allerdings nicht nur in der betrieblichen Ausbildung, sondern auch mit Blick auf die Schulen. Denn nicht alle Schüler kommen gleich gut mit E-Learning von zu Hause aus klar. Entweder es fehlt an der Technik, an der Hilfestellung vom Elternhaus oder ganz banal am Platz: Wenn der Schüler oder die Schülerin zum Beispiel kein eigenes Zimmer zum Lernen hat, sich deshalb nicht richtig konzentrieren kann. Der soziale Spalt unseres Bildungssystems ist in der Pandemie deutlich breiter geworden. Kinder aus einkommensschwachen Verhältnissen werden noch weiter abgehängt – das birgt immensen sozialen Sprengstoff.
Auffällig ist, dass die Einzelgewerkschaften bei Tarifverhandlungen verstärkt Einmalzahlungen akzeptieren, prozentuale Erhöhungen, die dauerhaft die Löhne und Gehälter steigern, dagegen immer schwerer durchzusetzen sind. Jüngstes Beispiel ist die Metallindustrie. Ist das nicht alarmierend?
Hoffmann: Das Bild trügt. In den allermeisten Tarifverhandlungen erreichen wir durchaus Lohnerhöhungen, die tabellenwirksam und damit nachhaltig sind. In einigen Branchen stehen wir aktuell jedoch nicht nur wegen Corona, sondern auch aus anderen Gründen vor großen Herausforderungen – zum Beispiel in der Automobilindustrie, die eine Transformation weg vom Verbrennungs-, hin zum Elektromotor durchmacht. Diesen Prozess müssen wir so gestalten, dass nicht nur weiter gute Löhne gezahlt werden, sondern auch möglichst viele Arbeitsplätze erhalten bleiben. Da kann es in Krisensituationen auch mal zu Einmalzahlungen kommen. Aber seien Sie sich sicher: Wir werden auch in Zukunft über tabellenwirksame Lohnerhöhungen für dauerhaft steigende Einkommen bei den Kolleginnen und Kollegen sorgen.
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Wegen Kurzarbeit und kaum steigender Löhne sinken die Rentenansprüche der Beschäftigten – wird Corona die Altersarmut in Deutschland verschärfen?
Hoffmann: Diese Sorgen haben wir nicht erst seit Corona, aber die Entwicklung wird nun noch verschärft. Wir haben in Deutschland rund sieben Millionen Menschen, die weniger als 12 Euro in der Stunde verdienen. Sie werden so wenig Geld im Alter haben, dass ihre Rente vom Staat aufgestockt werden muss. Mit Blick auf die Pandemie mache ich mir vor allem Sorgen um die schon vorher schlecht bezahlten Beschäftigten im Einzelhandel, in der Gastronomie, in der Hotellerie, die nun in Kurzarbeit sind oder ihren Job verloren haben. Corona macht die Ärmeren noch ärmer und einige Reiche noch reicher. Das ist nicht nur ein Skandal, das gefährdet auch unsere Demokratie. Die Menschen haben ein feines Gespür für soziale Gerechtigkeit. Und sie ist in diesem Land leider nicht mehr gegeben.