Hamburg. Prognose sieht 1000 Unternehmensinsolvenzen für 2021 voraus. Finanziell angeschlagene Betriebe reißen andere mit in den Abgrund.

Zu den Unternehmen, die seit Jahresbeginn ein Insolvenzverfahren beantragen mussten, gehören einige auch in Hamburg sehr bekannte Namen: der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof, die Modeketten Tom Tailor, Esprit und AppelrathCüpper, der Bäckereifilialist Dat Backhus sowie – schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie – Auto Wichert. Insgesamt jedoch ist die Zahl der Firmenpleiten im ersten Halbjahr bundesweit wie auch in Hamburg trotz der Krise sogar gesunken.

Auch wenn dies wegen des Rückgangs der Wirtschaftsleistung auf den ersten Blick paradox anmuten mag, gibt es zwei gute Gründe für die Abnahme: die massiven Staatshilfen seit März und die Entscheidung der Bundesregierung, die Pflicht zum Antrag auf Insolvenz bis Ende September auszusetzen. Damit will man Betrieben, die durch die Pandemie in Not geraten sind, die Gelegenheit geben, auch mithilfe der Unterstützungsprogramme eine Sanierung auf den Weg zu bringen.  

In wenigen Tagen läuft diese Frist ab. Zwar ist sie für Unternehmen, die überschuldet, aber nicht zahlungsun­fähig sind, gerade noch einmal bis Ende Dezember verlängert worden. „Die Überschuldung spielt in der Insolvenzstatistik aber eine eher untergeordnete Rolle“, sagt Nikolaus von der Decken, Geschäftsführer der Wirtschaftsauskunftei Creditreform Hamburg: „Das sind wenige Fälle.“

Fürs zweite Halbjahr werden 430 Insolvenzmeldungen erwartet

Somit stellt sich die Frage, ob Hamburg in den nächsten Monaten vor einer echten Insolvenzwelle steht. Eine Prognose des Hamburger Unternehmens CrifBürgel, einem der bundesweit führenden Anbieter von Bonitätsinformationen, legt das nahe. Demnach sind für das zweite Halbjahr in der Hansestadt rund 430 Firmenpleiten zu erwarten – das wäre gut ein Drittel mehr als in der ersten Jahreshälfte (320). Im kommenden Jahr wird die Zahl nach Einschätzung von CrifBürgel weiter deutlich auf etwa 1000 Fälle zulegen.

„Die Insolvenzwelle wird noch weit ins Jahr 2021 hineinreichen“, sagt Geschäftsführer Frank Schlein. „Derzeit haben mehr als 300.000 Unternehmen in Deutschland finanzielle Probleme, die Hilfszahlungen verschleiern aber die wahre finanzielle Struktur einiger Unternehmen.“ Am größten seien die Risiken in den Branchen Gastronomie, Touristik (etwa Reisebüros), Entertainment (unter anderem Kinos) und bei Messebauern.

Euler Hermes spricht von „tickender Zeitbombe“

„Aber auch in der Hotellerie sind viele Unternehmen akut gefährdet“, sagt Creditreform-Geschäftsführer Nikolaus von der Decken: „Die Hotels hatten nie mit einer solchen Situation, wie sie durch die Corona-Pandemie eingetreten ist, gerechnet.“ Tendenziell stimmt er der Prognose von CrifBürgel zu: „Eine Insolvenzwelle wird kommen, weil das wirtschaftliche Umfeld viel rauer geworden ist.“ Allerdings rechne er mit einer „echten Welle“ erst im nächsten Jahr.

In vielen anderen Staaten rolle eine solche Pleitewelle längst, „während hier die Zeitbombe noch tickt“, sagt Ron van het Hof, Chef des Kreditversicherers Euler Hermes Deutschland mit Sitz in Hamburg. Schon demnächst müssten zahlreiche Unternehmen den Gang zum Insolvenzrichter antreten: „Im vierten Quartal schlägt für viele die Stunde der Wahrheit.“ Doch den größten Anstieg werde man in Deutschland „erst zeitversetzt von 2021 an sehen“, so van het Hof.

Verglichen mit dem Stand des Jahres 2019 rechnet der Creditreform-Hamburg-Chef von der Decken für 2021 mit einem „Anstieg im unteren zweistelligen Prozentbereich“. Er lobt zwar das Krisenmanagement der Bundesregierung, vor allem den gemeinsam mit den deutschen Kreditversicherern eingerichteten „Schutzschirm“, bei dem der Bund für Entschädigungszahlungen der Versicherer von bis zu 30 Milliarden Euro garantiert.

Aber Nikolaus von der Decken hat generell „gewisse Zweifel, ob es sinnvoll ist, insolvenzreife Unternehmen am Leben zu erhalten“. Denn es bestehe die Gefahr, dass sie andere mitreißen: „In rund einem Viertel aller Fälle von Firmenzusammenbrüchen liegt die Ursache darin, dass ein anderes Unternehmen, mit dem man in Geschäftsbeziehungen stand, seine Schulden nicht zahlen konnte. Damit gibt es ein Risiko, dass sich Insolvenzen kumulieren.“

Krise macht vor keiner Branche oder Unternehmensgröße Halt

Auch Ron van het Hof weist auf die Gefahren einer Stützung schwer angeschlagener Betriebe hin: „Unternehmen sind derzeit dadurch teilweise im Blindflug unterwegs: Sie wissen nicht, wie es finanziell um ihre Abnehmer wirklich bestellt ist.“ Mancher davon könnte längst in Schieflage sein, müsste dies aber nicht bei einem Insolvenzgericht anzeigen: „Dadurch laufen Lieferanten Gefahr, im schlimmsten Fall vollkommen unverschuldet mit in den Abwärtssog zu geraten.“

In einem weiteren Punkt sind sich die Experten ebenfalls einig: „In der Summe wird es zu einer höheren Anzahl von Insolvenzen kommen als in Verbindung mit der Finanzkrise 2008/2009“, sagt CrifBürgel-Geschäftsführer Schlein. Im Jahr 2009 gab es in Hamburg 992 Firmenpleiten.

Die aktuelle Krise ist nach Einschätzung von Ron van het Hof „deshalb so besonders, weil sie vor keinem Land, keiner Branche und keiner Unternehmensgröße haltmacht. Das gab es in diesem Ausmaß noch nie.“

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#Die Weltwirtschaft durchlebe gerade die schwerste Rezession seit 100 Jahren, und die Folgen seien fast gleichzeitig überall auf der Welt spürbar: „Bis 2021 dürften die weltweiten Pleiten um insgesamt knapp ein Drittel zulegen im Vergleich zu 2019 – und einen neuen Negativrekord erreichen.“

Zwar haben in den vergangenen zehn Jahren die Insolvenzzahlen in Deutschland angesichts des langen Wirtschaftsaufschwungs um rund ein Drittel abgenommen. Doch schon durch die Niedrigzinsphase hat es laut Euler Hermes in Europa rund 13.000 sogenannte „Zombie-Unternehmen“ gegeben, die wirtschaftlich eigentlich gar nicht mehr lebensfähig sind. Aufgrund der immensen Staatshilfen dürften es jetzt noch deutlich mehr werden.