Stockholm. Unverzagt lernen die schwedischen Kinder die Technologien der Zukunft. Was Schweden uns voraus hat und was wir noch lernen können.

Eine Reise nach Stockholm ist auch eine Reise in die Zukunft: Knapp 1000 Kilometer nordöstlich lässt sich die Welt von morgen erleben. Anders als die mitunter technikkritischen Deutschen sind die meisten Schweden in Hightech geradezu vernarrt.

Wer dieser Tage durch die größte Stadt Skandinaviens läuft, spürt die digitale Revolution an allen Ecken und Enden: In vielen Restaurants stellt man sein Menü auf einem Touchscreen zusammen, in Hotels wählt man seine Frühstückszeit per QR-Code über das Mobiltelefon. Bargeld gehört der Vergangenheit an, man zahlt per Handy. Medien weltweit wunderten sich über Tausende Schweden, die sich schon vor Jahren einen Chip in ihren Körper einpflanzen ließen, den sie als Kredit­karte, Hausschlüssel oder Impfnachweis nutzen.

Digitalisierung: Deutschland hinkt hinterher

Was wie ein Technikspleen wirkt, hat die Bürger im 21. Jahrhundert vorangebracht: Kein anderes europäisches Land ist so innovationsoffen und innovativ wie Schweden. Hier wurde der Musik-Streaming-Anbieter Spotify ersonnen, das Bezahlangebot Klarna oder die Videokonferenz-Plattform Skype erfunden. Auch das erfolgreichste Online-spiel „Minecraft“ (Mojang) oder „Candy Crush“ (King Digital Entertainment) kommen aus dem coolen Norden.

Sein Unternehmen entwickelte das bisher erfolg­reichste Onlinespiel „Minecraft“: Jonas Martensson, Vorstandschef von Mojang.
Sein Unternehmen entwickelte das bisher erfolg­reichste Onlinespiel „Minecraft“: Jonas Martensson, Vorstandschef von Mojang. © picture alliance / Svenska Dagbladet | Tomas Oneborg/SvD/TT

In Zahlen liest sich das so: 2021 bekamen schwedische Start-ups in Finanzierungsrunden rund 4,4 Milliarden Euro – das achtmal so große Deutschland kommt nur auf die vierfache Summe. „Deutschland hinkt den weltweit und in Europa führenden Start-up-Nationen hinterher“, kritisierte jüngst der Start-up-Verband. Im Jahre 2020 arbeiteten hierzulande 415.000 Menschen oder 0,9 Prozent der Beschäftigten für Start-ups oder Scale-ups, wie reifere Gründungen genannt werden. In Schweden waren es 2,2 Prozent. Würde die Bundesrepublik nordische Werte schaffen, entstünden mehr als 520.000 neue Jobs.

Digitalisierung: Schweden hat jahrelangen Vorsprung

Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Als Deutsche Mitte der 90er-Jahre Mobiltelefone noch für Statussymbole von Aufschneidern hielten, waren sie in Schweden sogar für Studenten eine Selbstverständlichkeit. Bis heute profitieren Firmen wie Ericsson von diesem Erbe.

Als Deutsche vor der Jahrtausendwende die Email für einen falsch geschriebenen Emil hielten, besaßen Hunderttausende Nordeuropäer eine Webadresse und waren schon drin im Netz der unbeschränkten Möglichkeiten. In der Bundesrepublik musste erst Boris Becker 1999 im AOL-Werbefilm die Bundesbürger ins Netz locken. Schwedens Vorsprung von mehreren Jahren zahlt sich bis heute aus.

Digitalisierung erfordert Vertrauen

Für den Energie- und Digitalminister Khashayar Farmanbar, der selbst aus der IT-Industrie kommt, sind fünf Dinge entscheidend: digitale Kompetenz, Sicherheit, Innovation, Infrastruktur und Führung – und auf allen Feldern hat Schweden in den vergangenen Jahrzehnten investiert. Dabei kommt dem Land zugute, dass die Menschen ein großes Vertrauen in den Staat und seine Akteure mitbringen.

Farmanbar erklärt es damit, dass Schweden sich von einem der ärmsten zu einem der reichsten Staaten der Welt entwickelt und seit Generationen keine Kriege geführt hat. „Das Vertrauen der Menschen ist elementar“, sagt er über den digitalen Erfolg. Im Norden sehe man eher Chancen als Gefahren.

Digitalisierung: Die Sache mit dem Datenschutz

So habe es etwa in Schweden keine Debatte über Datenschutz bei elektronischen Arztrezepten gegeben, das Gesundheitssystem ist längst vernetzt. Hierzulande hingegen geht die Digitalisierung nur schleppend voran, wie das E-Rezept zeigt. In Deutschland wurden davon bislang 10.000 eingereicht – bei 500 Millionen Papierverschreibungen im Jahr.

Eine größere Offenheit gegenüber der Digitalisierung nützt dabei allen – zumindest, wenn es nach den Gründern des Online-Gesundheitsunternehmens Kry geht. Das Start-up hat eine Gesundheits-App programmiert, die Patienten und Ärzte passgenau und ohne Wartezeiten per Videotelefonie zusammenbringen soll.

„Stockholm: „Treiber des digitalen Aufbruchs“

Die Digitalisierung erleichtert die Kommunikation – der Mediziner kann auf eine digitale Patientenakte zugreifen und nach einigen Tagen rückfragen, ob sich das Befinden verbessert hat oder das Rezept eingelöst wurde. Inzwischen betreibt Kry eigene Praxen oder arbeitet mit Gesundheitszentren zusammen, um Blutabnahmen oder körperliche Untersuchungen durchzuführen. Die „Flagship-Klinik“ betreibt Kry im Herzen Stockholms in dem Einkaufszen­trum Gallerian – die Praxis mit ihren warmen Farbtönen, Holztüren, Parkettboden und Ärzten, die alle einen Laptop tragen, wirkt eher wie ein cooles Büro als ein Krankenhaus.

Stockholm ist Treiber des digitalen Aufbruchs, die Hauptstadt hat sich dabei neu erfunden. „Eines Tages begann die Stadt, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen, die von der Außenwahrnehmung abwich“, blickt Olle Zetterberg zurück: die Geschichte einer innovativen, digitalen und zukunftsoffenen Metropole, einer Stadt der Erfinder und Entwickler.

Stockholm fast so innovativ wie Silicon Valley

Der Jurist Zetterberg ist seit 1981 für die Stadt Stockholm tätig und war bis zu seiner Pensionierung CEO der Stockholm Business Region. Der 71-Jährige ist einer der Erfinder des Narrativs von Stockholm als „magischer Einhorn­fabrik“.

Die schwedische Metropole gilt mit Berlin und London als europäische Hauptstadt dieser Unicorns, wie Start-ups genannt werden, die auf eine Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar kommen. „Stockholm ist heute die Heimat einiger der am schnellsten wachsenden Start-ups in Europa und hat nach dem Silicon Valley die weltweit meisten Einhörner pro Kopf“, sagt Zetterberg dem Abendblatt.

Digitalisierung: Schweden als „Early Adopter“

Das wertvollste Einhorn in Europa ist Klarna. Der Internet-Zahlungsanbieter ist aus Schweden nach Deutschland expandiert. „Kulturell und wirtschaftlich gesehen stehen sich Deutschland und Schweden sehr nahe, aber es gibt vor allem beim Bezahlen und Einkaufen einige Unterschiede“, sagt Isabelle Backenstoss, die als Deutsche für Klarna als Leiterin des Service Accelerator Programms arbeitet.

Der schwedische Zahlungsanbieter gilt als wertvollstes „Einhorn“ Europas –  und könnte bald an die Börse gehen.
Der schwedische Zahlungsanbieter gilt als wertvollstes „Einhorn“ Europas – und könnte bald an die Börse gehen. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Thiago Prudencio

Schweden habe eine Kultur der Offenheit für Technologien und sei ein Land der „Early Adopter“: „Die Schweden sind an neuen Technologien interessiert und stehen diesen sehr aufgeschlossen gegenüber.“ Diese Technologieaffinität sei auch durch Beschlüsse der schwedischen Regierung erreicht worden: Schon in den 90er-Jahren verabschiedete sie ein Gesetz, das Unternehmen Steuern erlässt, wenn diese ihren Mitarbeitern kostenlos Computer zur Verfügung stellen. „Programmieren ist mittlerweile fester Bestandteil der Bildungspolitik und wird ab der Grundschule gelehrt“, sagt Backenstoss.

Made in Sweden: Mingus (9) spielt auf dem iPad das Onlinespiel „Minecraft“.
Made in Sweden: Mingus (9) spielt auf dem iPad das Onlinespiel „Minecraft“. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Digitalisierung: Erfolgsgeschichten motivieren

Der Erfolg wiederum ist der Vater des Erfolges. Backenstoss sagt, dass Firmen wie Klarna oder Spotify „enorme Strahlkraft haben und junge Talente beflügeln, an ihrem eigenen Traum vom Start-up oder gar einem Unicorn zu arbeiten“.

Hier hört die Welt Musik: der schwedische Streaming-Dienst Spotify.
Hier hört die Welt Musik: der schwedische Streaming-Dienst Spotify. © Promo | Unbekannt

Klarna-Gründer Niklas Adalberth hat die gemeinnützige Stiftung Norrsken aufgebaut, die junge Unternehmer unterstützen will bei der Lösung der globalen Herausforderungen wie Armut, Hunger, Umweltschutz und Klimawandel. Ein ehemaliges Straßenbahn­depot hat Norrsken in eine Gründerwerkstatt verwandelt, in der kleine Firmen Kapital, Unterstützung und ein Büro bekommen können, um groß zu werden. „Wenn diese Firmen gewinnen, gewinnen wir alle“, sagt Norrsken-Kommunikationschef Daniel Goldberg.

Licht und klar, schwedisch eben: das Gründerzentrum Norrsken.
Licht und klar, schwedisch eben: das Gründerzentrum Norrsken. © Matthias Iken | Matthias Iken

99 Prozent flächendeckendes Glasfasernetz

Es geht aber nicht nur um die Beweglichkeit im Kopf, sondern auch um die Investments im Boden. Stockholm brüstet sich mit einem Glasfasernetz, das eine Flächenabdeckung von über 99 Prozent aufweist. Das städtische Unternehmen Stokab hat seit 1995 den Breitbandausbau auf eigene Kosten realisiert, mehrere Dutzend Anbieter können diese Infrastruktur nun nutzen, und dieser Wettbewerb hält die Gebühren niedrig.

Der Gedanke dahinter: Die Stadt baut Straßen, betreibt aber keine Autos. „Seit seiner Gründung bietet Stokab Unternehmen ein offenes Netzwerk mit niedrigen Gebühren und hoher Leistung wie Sicherheit. Das war ein wesentlicher Grund für viele erfolgreiche Firmengründungen“, sagt Zetterberg, der von der vielleicht wichtigsten Infrastrukturinvestition in Stockholm überhaupt spricht. Doch auch Computer sind im Land seit über zwei Jahrzehnten allgegenwärtig: Schon in den 90er-Jahren sorgte eine staatliche Initiative dafür, alle Haushalte mit einem Rechner auszurüsten.

Digitalisierung: Hilfsstütze während Pandemie

Diese Infrastruktur nützt nicht nur den vielen digitalen Unternehmen, sie war auch eine Voraussetzung dafür, dass die schwedische Wirtschaft gut durch die Pandemie gekommen ist. Der Schulbetrieb lief auch im Wechselunterricht reibungslos weiter. Jeder Schüler in Stockholm ab Klasse 4 hat seinen eigenen Rechner, den die Schulen bezahlen und stellen.

„Diese Ausstattung war entscheidend, um die Kommunikation mit den Schülern aufrechtzuhalten“, sagt Rebecca Seiter, die Lehrerin an der Högalidsskolan in Stockholm. „Wir haben Videokonferenzen mit MS Teams benutzt. Die Schüler haben digitales Unterrichtsmaterial im PDF-Format, als Video oder Office-Dokument in MS Teams geteilt und dann im Videochat oder in aufgenommenen Videos beantwortet“, erzählt sie. Die Datenschutzdebatte, die hierzulande aufgeregt geführt wurde, hat Schweden nie erreicht.

Weniger wirtschaftliche Einbußen dank Digitalisierung

Schweden war auf Heimarbeit besser vorbereitet als alle anderen Länder. Auch wegen der Digitalisierung und Internetdurchdringung kam das Land besser durch die Corona-Krise als Kontinentaleuropa, sagt Jens Magnusson, Chefvolkswirt der Bank SEB, dem Abendblatt. „Das ermöglichte einen reibungslosen Übergang von der Büroarbeit zur Heimarbeit und half, die Produktion auch in Zeiten aufrechtzuerhalten, in denen die Menschen nicht zur Arbeit kommen konnten.“

Die Ergebnisse lassen sich im Bruttoinlandsprodukt ablesen: Deutschland verlor im ersten Corona-Jahr 4,6 Prozent Wirtschaftsleistung und holte 2021 nur 2,8 Prozent auf; in Schweden war der Einbruch 2020 mit einem Minus von 2,9 Prozent moderat, während das Wachstum 2021 schon wieder 4,9 Prozent betrug.

Schweden: Zweitschnellstes Internet der Welt

Die konsequente Digitalisierung, die Offenheit der Bürger für Innovationen und die frühe Entwicklung zu einer bargeldlosen Gesellschaft hätten zudem Gründer motiviert und den Fintech-Sektor beschleunigt. „Fast alle Bankgeschäfte und die meisten Zahlungen werden digital erledigt“, sagt Magnusson.

Der Chefvolkswirt erklärt den Erfolg der vielen Einhörner so: „Die Digitalisierung, die Nutzung des Internets, die Verbreitung schneller und zuverlässiger Verbindungen ist größer und wichtiger als in anderen Ländern.“ Blicke man auf eine Weltkarte, die die Schnelligkeit des Internets abbildet, landet Schweden hinter Südkorea auf Platz 2, Deutschland hingegen unter ferner liefen.

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Digitalisierung gut, alles gut?

Auch die deutsche Allianz Real Estate kommt in einem aktuellen Städtevergleich von Anfang des Jahres zur Erkenntnis, dass sich Stockholm hinter London, aber vor Berlin Bestnoten verdient. Einer der Gründe der Immobilienexperten für ihr Lob ist die „wachsende Technologiebranche, in der dreimal so viele Menschen in IT und Kommunikation beschäftigt sind wie im EU-Durchschnitt“.

Aber Schweden ist keine heile Welt von morgen, kein digitales Bullerbü, sondern kämpft mit denselben Problemen wie andere Metropolen – der Wohnungsmangel ist dramatisch, es fehlen Zehntausende Informatiker.

Digitalisierung rüstet Schweden für die Zukunft

Besonders schwer wiegt im Norden die auch durch eine falsche Sozialpolitik ausgelöste Segregation: Gerade haben die Krawalle nach den provokativen Koran-Verbrennungen gezeigt, dass viele Migranten unzureichend in die schwedische Gesellschaft integriert sind. Trotzdem scheint das Land auf viele Herausforderungen von morgen besser vorbereitet zu sein als andere: Die digitale Weltoffenheit zahlt sich aus.