Hamburg. Teil 1: Der Einzelhandel in Hamburg. Budnikowsky, Globetrotter und Co. finden keine Fachkräfte. Die Gründe und mögliche Lösungen.
Wer gleich morgens beim Outdoorhändler Globetrotter nach einem Rucksack oder neuen Wanderstiefeln suchen will, steht vor verschlossenen Türen. Denn das Unternehmen hat die Öffnungszeiten im Hamburger Stammhaus in Barmbek in der Woche eingedampft. Statt wie früher um 10 Uhr macht der Laden erst um 11 Uhr auf. Und abends ist schon eine Stunde früher um 19 Uhr Schluss. Am Sonnabend muss man den Einkauf zwischen 10 und 18 erledigen.
„Minus 2“, nennt Globetrotter-Geschäftsführer Andreas Bartmann die Strategie. In diversen Filialen gelten jetzt andere Geschäftszeiten als vor der Pandemie. Der Standort an der Gerhofstraße in der Innenstadt schließt ebenfalls um 19 Uhr. Das ist dann minus 1. Der Einzelhändler reagiert so auf den Personalmangel in der Branche. „Es zeigt sich, dass es für viele Beschäftigte attraktiver ist, wenn der Arbeitstag nicht erst um 20 Uhr endet. Gerade, wenn man Familie und Kinder hat“, sagt Bartmann.
Geschäfte verkürzen ihre Öffnungszeiten
Bei Globetrotter mit bundesweit etwa 1000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ist aktuell jede zehnte Stelle nicht besetzt – von der stellvertretenden Filialleitung bis zur Aushilfskraft. „Wir sind teilweise an der Kapazitätsgrenze“, sagt Bartmann. Von der Verkürzung der Öffnungszeiten verspricht sich der Ausrüster mehr Bewerbungen auf offene Stellen. Vor allem bei jüngeren Menschen seien weniger Wochenendarbeit und früher Feierabend wichtige Gründe, um einen Job anzunehmen. Und auch für das Unternehmen gebe es Vorteile, weil weniger Schichtdienste anfielen.
„Es hat sich inzwischen gezeigt, dass 20 Prozent mehr Öffnungszeiten nicht auch 20 Prozent mehr Umsatz bedeuten.“ Deutlich mehr Einkäufe würden online getätigt. „Ich bin mir sicher, dass uns viele Fachhändler folgen und Geschäftszeiten langfristig gekürzt werden“, so der Branchenexperte, der auch Präsident des Handelsverbands Nord ist. „Personalmangel ist ein flächendeckendes Problem im Einzelhandel und eine enorme Herausforderung.“
„Gesucht werden vor allem Fachkräfte“
Die Zahlen der Arbeitsagentur zeigen: Hamburgs Einzelhändler haben derzeit 1087 freie Stellen gemeldet, das sind 66,5 Prozent mehr als im Mai 2021 – und im Vergleich zur Gesamtzahl ein überproportionaler Anstieg des Arbeitskräftebedarfs. Auch die im Verlauf des vergangenen Jahres neu gemeldeten Stellenangebote sind um 62,7 Prozent auf 3577 angestiegen. Und das in einer Situation, in der in den kommenden Jahren mehr Arbeitnehmer in Rente gehen als neue nachkommen.
„Gesucht werden vor allem Fachkräfte“, sagt der Arbeitsagentur-Sprecher Knut Böhrnsen. Dabei passen Angebot und Nachfrage offenbar nicht optimal zusammen. Denn die Zahl der arbeitslos gemeldeten Verkäuferinnen und Verkäufer ist mit 1720 nach wie vor hoch. Bei den Aushilfsjobs stehen 5266 Gesuche 40 Angeboten gegenüber. Zur Einordnung: Es handelt es dabei nur um die Jobs, die bei der staatlichen Arbeitsvermittlung landen. Viele Inserate laufen über kommerzielle Stellenportale, über soziale Medien oder einfach per Aushang im Schaufenster – teilweise auch parallel.
Situation im Lebensmittelhandel besonders schwierig
Besonders im Lebensmittelhandel wird es immer schwieriger, freie Stellen an Kassen, Regalen und Service-Theken zu besetzen. Der Arbeitsmarkt ist praktisch leer. Gerade mal 267 Männer und Frauen hatten sich im Mai bei der Arbeitsagentur in dem Bereich arbeitslos gemeldet. Es trifft große Filialisten genau wie kleine Handwerksbetriebe. „Wir müssen wegen Personalmangels schon seit einiger Zeit in drei Filialen früher schließen“, sagt Björn Hönig, Inhaber der gleichnamigen Bäckerei mit vier Filialen und 70 Beschäftigten.
„Das ist dramatisch, weil das gesamte Nachmittagsgeschäft wegfällt.“ Der Standort an der Papenreye in Niendorf ist in der Woche ab 13 Uhr dicht, in der Sentastraße in Barmbek-Süd ist um 12.30 Uhr Schluss, am Grasbrookpark in der HafenCity spätestens um 17 Uhr. Hönig sucht mindestens vier neue Vollzeitkräfte, findet aber niemanden. Dabei bietet der Bäckermeister als zusätzlichen Anreiz Fahrtkostenbeteiligung, eine betriebliche Zusatzkrankenversicherung und Lohnzuschläge. Jetzt zieht er eine weitere Konsequenz: Von dieser Woche an bleibt die Barmbeker Filiale sonntags geschlossen. „Möglicherweise weiten wir das auf weitere Standorte aus“, sagt er. Auch andere Bäckereien reagieren mit ähnlichen Maßnahmen.
Budnikowsky versucht, Fachkräfte zu locken
Selbst bestens eingeführte Arbeitgeber wie Budnikowsky geraten unter Druck. „Die Situation ist deutlich angespannter als in den Vorjahren“, sagt Carsten Neumann, der mit Christoph Wöhlke das operative Geschäft der Drogeriemarktkette mit 190 Filialen und knapp 3000 Beschäftigten in Hamburg und Berlin führt. Die Zahl der freien Stellen liege im niedrigen dreistelligen Bereich. Einschränkungen im Geschäftsbetrieb gebe es nicht, die Beschäftigten arbeiteten mit großem Einsatz. Auch Budni versucht mit Mitarbeiterrabatten, Fahrtkostenzuschüssen und ähnlichem auf dem Arbeitsmarkt zu punkten. Aktuell hat das Unternehmen gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten ein Integrationsprogramm für Geflüchtete aus der Ukraine und anderen Ländern gestartet.
Die Gründe für den wachsenden Personalmangel sieht Heike Lattekamp, Leiterin Fachbereich Handel bei Ver.di Hamburg, neben der demografischen Entwicklung auch in den Arbeitsbedingungen der 70.000 fest angestellten Verkäufer und Verkäuferinnen in der Stadt, deren Arbeitstage gerade im Lebensmittelhandel oft erst gegen Mitternacht enden. Zugleich ist in der tariflichen Lohntabelle für Einzelhandelskaufleute bei 2832 Euro brutto im Monat Schluss – für eine Vollzeitstelle.
Viele Lehrstellen blieben unbesetzt
Besonders bitter: Die Tariferhöhung aus dem vergangenen Jahr in Höhe von zweimal 1,5 Prozent hat die hohe Inflation längst aufgefressen. Dazu kommen die Unwägbarkeiten im stationären Geschäft durch den boomenden Online-handel. In den vergangenen Jahren habe sie mehrfach erlebt, dass erfahrenes und engagiertes Personal etwa bei der Warenhauskette Galeria in andere Branchen abgewandert sei, sagt die Gewerkschaftlerin. „Die Beschäftigen gehen dort weg, wo die Situation für die Zukunft unsicher ist.“
Und es sieht nicht so aus, als würde sich daran schnell etwas ändern. Die Zahl der jungen Menschen, die 2021 eine Ausbildung im Einzel- und Versandhandel angefangen habe, ist um 607 auf 2192 gesunken. Zahlreiche Lehrstellen blieben unbesetzt. Auch in diesem Ausbildungsjahr gibt es wenige Wochen vor Beginn noch 724 offene Lehrstellen im Einzelhandel.
„Es geht auch um Unternehmenskultur"
„Man muss als Unternehmen attraktiv sein, um Menschen zu begeistern“, sagt Ulrike Witt, Leiterin des Forschungsbereichs Personal im Handel beim EHI Retail Instituts in Köln, das Ende 2021 die Studie Talents4Retails veröffentlicht hat. Als Hauptgründe für die wachsende Zahl an unbesetzten Stellen hat die Untersuchung neben mangelnder Qualifikation auf der einen Seite schlechte Vergütung, lange Arbeitszeiten sowie das mäßige Image des Einzelhandels ergeben. „Es geht auch um Unternehmenskultur, Mitsprachemöglichkeiten und das Gefühl von Sinnhaftigkeit“, sagt Witt.
So könnten etwa über ein modernes Personalmanagement Schichtpläne von den Mitarbeitern selbst gestaltet werden, die dann als gerechter empfunden würden. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die Umgestaltung der Ausbildung mit deutlich mehr digitalen Inhalten, um die Vernetzung von Online-shopping und dem sich ändernden stationärem Geschäft erfolgreich zu meistern. „Es muss einen Mehrwert haben, in einen Laden zu gehen.“
Besonders auf Sylt bleiben Stellen unbesetzt
Auch Edeka-Kaufmann Jörg Meyer, der mit seiner Familie vom Firmensitz in Pinneberg aus zehn Supermärkte mit 800 Mitarbeitern in Hamburg und Umgebung betreibt, sieht die Herausforderungen. Vor allem auf Sylt sei es schwierig, alle 80 Stellen zu besetzen. „Ohne Wohnraumangebot ist es praktisch aussichtslos“, sagt er. Inzwischen hat das Unternehmen 50 Wohnungen auf der Insel gebaut und damit Bewerber sogar aus Frankreich angelockt.
Aber auch in Hamburg werde es zunehmend schwieriger, geeignetes Personal zu finden, vor allem Führungskräfte seien stark gesucht. Der Kaufmann hat inzwischen reagiert und schränkt unter anderem die Bedienzeiten an der Frische-Theke ein. In der Rindermarkthalle auf St. Pauli etwa kann man sich Fleisch, Wurst, Käse und Salate seit diesem Sonnabend nur noch bis 19 Uhr verpacken lassen.
Läden sollen digitalisiert werden
Dazu setzt er auf die Automatisierung der zweite „Problemzone“: die Kassen. „Das geht jetzt in atemberaubendem Tempo, dass immer mehr Selbst-Scanner-Stationen installiert werden“, sagt Meyer. In der Rindermarkthalle sollen es bis Ende Juni fünf neue Systeme sein. Auch ein intelligenter Einkaufswagen, in dem die Einkäufe über einen Scanner direkt am Regal erfasst werden, ist in Planung. Besonders der Lebensmittelhandel hat schon diverse Tests für die Zukunft des Einkaufs gemacht, von kassenlosen Läden über Lieferdienste bis zu Abholpunkten für bestellte Waren.
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„Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten Jahren pro Filiale 100.000 Euro Digitalisierungskosten haben“, sagt Kaufmann Jörg Meyer. Auch in anderen Bereichen testen die Handelsketten zusätzlich zu Onlineshops neue Lösungen. So hat die Otto-Tochter Bonprix bereits 2018 in der Hamburger Innenstadt einen Laden eröffnet, in dem Kunden per Smartphone-App einkaufen. Der spanische Zara-Mutterkonzern Inditex hat gerade in Madrid eine Filiale mit zahlreichen Vernetzungsoptionen zwischen digitalem und stationärem Einkauf eröffnet, wie Self-Checkout, speziellen Kassen für Retouren und Paketautomaten.
Geschäfte in Hamburg befinden sich im Wandel
Verbandspräsident Bartmann ist überzeugt, dass sich die Arbeit im Handel drastisch verändern wird. Neue Öffnungszeiten wie bei Globetrotter sind nur der Anfang. „Zukünftig wird es um hybrides Verkaufen gehen. Das ist mehr als Regale auffüllen, das ist ein neues Arbeiten“, sagt er. Es komme gerade viel in Bewegung, wehrt er sich gegen das schlechte Image der Branche. „Es gab noch nie so niedrige Einstiegshürden und schnelle Qualifizierungsmöglichkeiten. „Es ist möglich, mit Mitte 20 eine Bereichsleitung oder eine stellvertretende Filialleitung zu haben.“ Mit entsprechendem Gehalt.