Hamburg. Das Projekt New sorgt für Verunsicherung bei Mitarbeitern. Gewerkschaft spricht von „Profitgier“. Unternehmen verteidigt seine Pläne.

Eigentlich müsste die Stimmung in der Otto-Zentrale in Bramfeld zurzeit bestens sein. Das Versandgeschäft in Corona-Zeiten boomt. Gerade erst hat der größte deutsche Online-Händler mit bundesweit 5600 Mitarbeitern für das abgelaufene Geschäftsjahr Rekordumsätze und Millionen neue Kunden gemeldet.

Aber seitdem die Pläne für eine massive Umstrukturierung bekannt wurden, herrscht Verunsicherung im Unternehmen. Bei einer digitalen Betriebsversammlung am gestrigen Dienstag zeigte sich, wie brisant die Lage ist. Zeitweilig waren 2900 Beschäftigte der Einladung des Betriebsrats gefolgt.

Kosteneinsparungen von 50 Millionen Euro im Jahr

Wichtigster Tagesordnungspunkt: das Projekt New, mit dem Otto den Umbau vom reinen Händler zu einem digitalen Marktplatz vorantreiben will – inklusive Kosteneinsparungen von 50 Millionen Euro im Jahr und Personalabbau. Es gab viele Fragen, große Sorgen und nach Angaben von Teilnehmern auch reichlich Frust – aber auch Zustimmung.

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Um was geht es? Seit September 2020 arbeiten mehr als 60 Mitarbeiter bei Otto an dem Umstrukturierungsprojekt, mit im Boot sind Unternehmensberater von McKinsey. Nach dem Start von New Anfang April sind offenbar drei Stufen geplant, in denen die Veränderungen bis Ende des Geschäftsjahrs 2023/24 umgesetzt werden sollen.

Arbeitsaufwendige Prozesse sollen automatisiert werden

Dabei geht es im Kern darum, heute arbeitsaufwendige Prozesse in Zukunft zu automatisieren und zu standardisieren. Die Entscheidung, Otto zu einer Plattform umzubauen und damit auch künftig wettbewerbsfähig zu machen, war bereits 2017 gefallen. Jährlich investiert das Unternehmen seitdem 80 bis 100 Millionen Euro in die neuen Technologien.

Die ersten Ergebnisse sind sichtbar: etwa 1000 externe Partner bieten inzwischen ihre Waren auf otto.de an. Jetzt solle die interne Organisation angepasst werden, heißt es. Für den Vorsitzenden des Bereichsvorstands, Marc Opelt, geht es vor allem darum, langfristig im Wettbewerb mit Branchenprimus Amazon, aber auch mit jungen Anbietern wie Zalando erfolgreich mitzuhalten. Zudem habe der Kundenansturm otto.de an die Grenzen gebracht. Prozesse müssten deshalb optimiert werden.

Opelt spricht von „schlankeren Strukturen“

Wie das ganz konkret aussehen soll, ist noch nicht endgültig entschieden. Betroffen sind nach Unternehmensangaben vor allem die Bereiche Marketing und Vertrieb. Klar ist auch, dass nach der Umstrukturierung in bestimmten Abteilungen weniger Mitarbeiter gebraucht werden, manche sogar ganz wegfallen.

Auf die Frage, wie viele Stellen im Rahmen des Rationalisierungsprojekts abgebaut werden, gibt Otto offiziell noch keine Antwort. Opelt spricht von „schlankeren Strukturen“ und „personellen Anpassungen“. Im Firmen-Internet lässt er sich so zitieren: „Für viele der bis Ende 2023 terminierten Maßnahmen stehen die genaue Ausgestaltung und Stellenplanung noch aus.“

Mehr als 100 Spezialisten für IT und Online-Marketing würden gesucht

Dabei verweist er darauf, dass zeitzeitig aktuell mehr als 100 Spezialisten für IT und Online-Marketing gesucht würden. Und er gehe davon aus, dass noch einige dazukommen. Aber: Laut eines internen Strategiepapiers, das dem Abendblatt vorliegt, existiert bereits eine Übersicht der geplanten personellen Veränderungen.

 Danach sollen im zweiten Schritt bis Ende Februar 130 bis zu 140 Vollzeitstellen abgebaut und parallel 80 aufgebaut werden. Bis Ende 2024 (gemeint ist offenbar das Geschäftsjahr 2023/24) wird in der Vorlage der Abbau von 360 bis 400 Vollzeitjobs anvisiert, 100 könnten neu entstehen. Sollte die Idee umgesetzt werden, würde dies unterm Strich den Verlust von mehr als 300 Vollzeitstellen bedeuten.

Beschäftigter beklagt die fehlende Transparenz

„Das Hauptproblem ist, dass im Moment niemand weiß, was ist“, beklagt ein Beschäftigter gegenüber dem Abendblatt die fehlende Transparenz. Niemand wisse, ob er oder sie in den nächsten Jahren noch bei Otto arbeite. Fakt sei: „Otto braucht neue Leute für neue Zeiten und neue Technologien. Die alten werden nicht mehr gebraucht.“

 Besonders stößt dabei vielen auf, dass das Umstrukturierungsprojekt in eine besonders erfolgreiche Geschäftsphase mit einem Umsatzplus von 30 Prozent auf 4,5 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2020/21 fällt. Zehn Millionen Kunden bestellen inzwischen regelmäßig bei Otto – so viele wie noch nie (das Abendblatt berichtete).

Bei der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di schrillen die Alarmglocken

Auch bei der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di schrillen die Alarmglocken. „Otto gehört zu den großen Gewinnern der Corona-Krise. Das verdankt der Konzern in erster Linie den Beschäftigten, die trotz der Belastungen durch Homeoffice, Kontaktbeschränkungen und in Sorge um die eigene Gesundheit während der Pandemie jeden Tag gute Arbeit geleistet haben“, sagt die Hamburger Fachbereichsleiterin für den Handel, Heike Lattekamp.

„Die Ankündigung des Personalabbaus zeugt von Profitgier der Konzernleitung und fehlender Wertschätzung und sozialer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Mit der hanseatischen Haltung des Gründers Werner Otto hat das nichts mehr zu tun.“

Verhandlungen mit dem Betriebsrat laufen

Otto pflegt derweil sein Image als moderner Arbeitgeber. Flache Hierarchien und agile Arbeitsmöglichkeiten gehören genau so dazu wie die Anrede mit Du bis in die Führungsebene und die geplante Abschaffung von Vorstandsbüros. Und ein Unternehmenssprecher stellt mit Nachdruck klar: Ein brutaler Kahlschlag sei keinesfalls geplant.

Dem Vernehmen nach laufen aktuell die Gespräche mit dem Betriebsrat über einen Sozialplan und einen Rahmeninteressenausgleich. Dabei geht es in dem Maßnahmenpaket neben Instrumenten wie Abfindungen und Altersteilzeit nach Abendblatt-Informationen auch um Qualifizierungsprogramme. Es scheint aktuell allerdings so zu sein, dass der Betriebsrat dem organisatorischen Umbau nicht zustimmen will, solange die Automatisierungsprojekte nicht vorliegen.

Umstrukturierungspläne sind nicht die einzigen Veränderungen unter dem Dach der Otto Group

Die Umstrukturierungspläne bei dem Online-Händler sind nicht die einzigen Veränderungen unter dem Dach der Otto Group. So hat der Handels- und Dienstleistungskonzern mit Wirkung zum 31. Dezember die Tochter Hansecontrol, einen Dienstleister für Qualitätssicherung mit Hauptsitz in Hamburg und 450 Beschäftigten, verkauft. Die Jobs sollen aber erhalten bleiben.

Auch der Betrieb des Dienstleisters ODC, der für kleine und mittelständische Unternehmen Logistikdienstleistungen und Retourenmanagement angeboten hatte, wurde aus strategischen Gründen eingestellt. Beschlossen ist ebenfalls das Aus des Retourenbetriebs Hermes Fulfil­ment mit mehr als 800 Arbeitsplätzen in Hamburg. Die Schließung hatte für großen Wirbel in der Stadt gesorgt.