Hamburg. Weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abläuft, müssen Ratsherrn und Co. den Gerstensaft entsorgen. Auch der FC St. Pauli ist betroffen.

Moritz Hamilton setzt den Zapfkopf auf den Verschluss des Bierfasses und lässt erst mal die Kohlensäure entweichen. Sonst würde der Druck den sogenannte Flachfitting beim Aufdrehen bis unter die Decke der Brauhalle katapultieren.

Als der Produktionsleiter der Ratsherrn-Brauerei das Fass mit geübtem Griff auf die Seite legt, ergießt sich goldgelbes Pilsner auf den geklinkerten Boden und fließt in breitem Strom Richtung Gully. Es dauert nur wenige Minuten, bis so ein 50-Liter-Fass schäumend leer gegluckert ist. Und kurz nachdem Hamilton mit dem Wasserschlauch nachgespült hat, ist der Biergeruch wieder verflogen.

„Es kommt in einer Brauerei schon mal vor, dass man ein einzelnes Fass wegschüttet“, sagt der Produktionsleiter, „aber dass hektoliterweise Bier vernichtet wird, wie wir es jetzt tun müssen, so etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Was er eben entsorgt hat, war kein in einer dunklen Kneipenkellerecke vergessenes und alt gewordenes Pils, das der Wirt zurückgegeben hat. Es war Bier, das seit der Abfüllung im vergangenen Spätsommer in der Brauerei lagerte und dessen Mindesthaltbarkeit in ein paar Wochen abläuft. Auf dem Fassetikett steht das Datum 15. März 2021.

Deutsche Brauer-Bund fordert Erstattung

Man hätte dieses Ratsherrn noch sehr gut trinken können. Theoretisch jedenfalls. Doch weil nach fast vier Monaten Gastronomie-Lockdown dessen Ende weiterhin nicht absehbar ist, heißt ein solches Datum in diesen Tagen: Dieses Bier wird nie eine Kehle hinunterrinnen, sondern durch den Gully in den Abwasserkanal und ins Klärwerk.

Was sie jetzt in der Brauerei in den Schanzenhöfen tun, geschieht vielerorts in den deutschen Brauereien. „Ware im Wert von vielen Millionen Euro, deren Haltbarkeitsdatum überschritten wurde, musste bereits vernichtet werden“, klagte der Deutsche Brauer-Bund Anfang der Woche.

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Der Branchenverband fordert eine Erstattung für verderbliche Ware, die nicht verkauft werden kann, und kritisiert, bei den Hilfsprogrammen gingen die 1500 Brauer weitgehend leer aus. „Wenn Bund und Länder hier nicht gezielt, entschieden und schnell mit finanzieller Unterstützung gegensteuern, droht vielen unserer Betriebe die Insolvenz“, so der Brauer-Bund.

Große Bier-Mengen nähern sich dem Ablaufdatum

Wie bei Ratsherrn in den Schanzenhöfen werden auch in der ungleich größeren Carlsberg-Brauerei in Bostelbek die Lager derzeit nach Fässern voller Holsten, Astra, Carlsberg und Lübzer durchforstet, deren Haltbarkeitsdatum in nächster Zeit abläuft. Eine Unternehmenssprecherin bestätigt, dass bei Carlsberg in Hamburg ebenfalls bereits Bier über die Kanalisation entsorgt wurde. „Die letzten Wochen mussten wir pandemiebedingt zwar noch nahezu keine Ware vernichten, aber nun wird das Problem sehr akut“, sagt sie und spricht von bisher „verhältnismäßig geringen Mengen“.

Sie werden jetzt wachsen. Denn: Die allermeisten Biersorten sollten innerhalb von sechs Monaten nach der Abfüllung ins Fass getrunken werden. Doch seit Anfang November sind die Gastronomiebetriebe, die klassischen Abnehmer von 30- und 50-Liter-Fässern, geschlossen und bestellen nicht nach. Jetzt nähert sich vieles, was im September oder Oktober produziert wurde und noch im Lager ist, dem Ablaufdatum.

Bei Ratsherrn hat man schon sehr genau ausgerechnet, was das in den nächsten Wochen bedeutet. „Wenn die Gastronomie bis Ostern nicht öffnet, wie es sich derzeit abzeichnet, werden wir 22.000 Liter Bier vernichten müssen“, sagt Unternehmenssprecherin Mariann von Redecker.

Fassbier in Flaschen umzufüllen, sei keine Alternative

Das Fassbier in Flaschen umzufüllen und an den Lebensmittelhandel zu liefern, sei keine Alternative. „Das wäre viel zu aufwendig, könnte zu Qualitätseinbußen führen und entspräche nicht unserem Frische-Anspruch.“ Bei der Sorte Zwickel, die ausschließlich als Fassbier verkauft wird, hat die Brauerei das so gemacht und eine Sonderedition in 0,75-Liter-Flaschen aufgelegt. Nebenbei gab es eine Premiere: Mit dem Zwickel befüllte Ratsherrn erstmals auch Dosen. Die gut 1200 Stück seien binnen drei Tagen im Brauerei-Shop verkauft worden, so die Unternehmenssprecherin.

Probleme mit Bier, dessen Haltbarkeitsdatum bald abläuft oder schon abgelaufen ist, haben auch Wirte wie Steffen Masur. „Ich habe hier noch sieben Fässer stehen“, sagt der Inhaber des Café Miller auf St. Pauli. In der Eckkneipe nahe dem Millerntor-Stadion floss das Bier bei Heimspielen des FC St. Pauli früher in Strömen aus den sechs Zapfhähnen. Alles in allem etwa 200 Hektoliter im Jahr – also 20.000 Liter. Da ist ausreichend Vorrat wichtig. Für gewöhnlich sind deshalb sogar 15 Fässer auf Lager. Doch als sich im Oktober ein zweiter Lockdown abzeichnete „habe ich konservativ eingekauft“, sagt Masur.

Vielleicht gibt es für die Wirte das eine oder andere Fass gratis

Seine Hoffnung, dass er die sieben Fässer – insgesamt 250 Liter Ratsherrn, Jever und Carlsberg-Bier – noch wird ausschenken können, ist gering. „Die beiden 50 Liter-Fässer Jever laufen als erste ab, im März.“ Am liebsten würde er das Friesisch-Herbe noch schnell vorher verkaufen. „Meinetwegen für einen Euro pro halbem Liter.“ Selbst wegschütten wird er das Bier nicht.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

 „Ich gebe die Fässer voll an den Großhändler zurück“, sagt der Café-Miller-Wirt. Er sieht eine kleine Chance, dass der finanzielle Verlust nicht allein an ihm hängen bleibt. „Die Außendienstler der Brauereien haben angedeutet, dass wir vielleicht das eine oder andere Fass gratis bekommen, aber fix ist das nicht.“

Und die Brauereien sind in diesem Punkt eher zurückhaltend. Ratsherrn werde „von Fall zu Fall“, entscheiden, sagt Mariann von Redecker. Die Carlsberg-Sprecherin schließt „individuelle Lösungen“ mit den Kunden nicht aus, betont aber: Die Brauerei setze darauf, dass Abnehmer vom Staat eine Entschädigung erhalten, wenn sie verderbliche Ware vernichten müssen.

Gastronomie-Lockdowns führen zu massiven Umsatzrückgängen

Die Gastronomie-Lockdowns im Frühjahr 2020 und seit Anfang November führen bei den Herstellern zu massiven Umsatzrückgängen. Carlsberg habe im vergangenen Jahr 55 Prozent weniger Fassbier verkauft, sagt die Unternehmenssprecherin. Ratsherrn setzte vor der Pandemie die Hälfte seiner Produktion in der Gastronomie ab.

 Jetzt werden zwar mehr Flaschen an Super- und Getränkemärkte geliefert, die beliebten Brauereiführungen finden virtuell statt, und es gibt gar Livestreams vom Bier-Yoga. Doch ausgleichen kann all das die Einbußen beim Fassbier nicht.

Carlsberg hat die Abfüllung in die Großbehälter bereits im November gestoppt. Bei Ratsherrn geht sie trotz allem weiter. „Wir wollen vorbereitet sein, falls die Produktion wegen eines Corona-Falls gestoppt werden muss, und nach Ende des Lockdowns soll es keine Lieferengpässe geben“, sagt Mariann von Redecker. Kurzarbeit in der Produktion gibt es nicht in den Schanzenhöfen.

In manchen Fällen beaufsichtigt der Zoll das Wegschütten

Zumal die Großhändler nun bald deutlich mehr abgelaufenes Bier in nie angezapften Fässern aus Restaurants und Kneipen wie dem Café Miller zurückbringen werden. Dann ist die Vernichtung per Hand zu mühselig und zeitaufwendig. Die vollen Fässer kommen auf die Füllanlage. „Sie lässt sich so programmieren, dass das Bier abgepumpt wird“, sagt Produktionsleiter Hamilton.

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Danach fließt es nicht sofort in die Kanalisation, sondern zunächst in eine sogenannte Neutralisationsanlage, in der unter anderem der pH-Wert und die Temperatur gemessen wird. Erst danach werden Pils, Helles und India Pale Ale in den Abwasserkanal gepumpt. „Der Alkohol ist dann noch drin“, so Hamilton.

Wenn er größere Mengen wegkippt, wird ein paar Tage vorher der Zoll informiert. Der entscheidet dann, ob er die Vernichtung beaufsichtigt. Denn für Bier, das direkt aus dem Fass und ohne Umweg über den Verdauungsapparat eines Menschen in den Kanal plätschert, wird die bereits gezahlte Biersteuer erstattet. Für einen Liter Pils sind es knapp 9,5 Cent. Und die Steuerbehörde benutzt ein sehr poetisches Wort für das Wegschütten. Sie nennt es: Bieruntergang.