Tallinn. Senatorin Melanie Leonhard besucht mit einer Delegation das Baltikum. Die Gäste sind vor allem von der Digitalisierung begeistert.

Wer in Estland heiraten möchte, muss nicht aufs Standesamt gehen. Das Brautpaar kann auch gemütlich auf dem Sofa sitzen, den Computer einschalten und die persönliche Identifikationskarte (ID-Karte) bereithalten. Dann geht man auf die Internetseite des zuständigen Amtes, lässt die ID-Karte auslesen und gibt sich per Knopfdruck das Ja-Wort.

In Sachen Digitalisierung und Vernetzung des öffentlichen und privaten Lebens sind die Esten viel weiter als die Deutschen. Das weiß auch Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD), die derzeit mit einer Wirtschaftsdelegation ­– eine der größten, die Deutschland in den vergangenen Jahren ins Baltikum entsandt hat – in Estlands Hauptstadt Tallinn weilt.

Heiraten per Knopfdruck: Was Hamburg von Estland lernen kann

Eines der Themen, mit denen sich die Gruppe befasst, ist das einst privat gestartete und inzwischen staatlich geförderte öffentliche Programm E-Estonia zum Aufbau einer landesweiten IT-Infrastruktur. Zwei der ersten Schritte: Die Regierung verzichtete auf Papier. Und Einkommenssteuererklärungen wurden digitalisiert.

Laut E-Estonia dauert die Steuererklärung nur noch drei Minuten, und 98 Prozent der Esten machen sie elektronisch. Natürlich mit der persönlichen ID-Karte, die heute so viel mehr kann als der deutsche Personalausweis: Bankgeschäfte werden darüber ebenso abgewickelt wie notarielle Beglaubigungen. Die Anmeldung eines Autos geschieht darüber ebenso wie die Beantragung der Rente. Die Esten gehen mit ihrer ID-Karte wählen, ohne dass einer von ihnen in einem Wahllokal erscheint. Und wer ein Gewerbe anmeldet, muss dazu nicht von Behörde zu Behörde laufen, sondern erledigt das von zu Hause innerhalb von drei Stunden

Hamburger Wirtschaftssenatorin Leonhard besucht mit einer Delegation das Baltikum

Wer Kinder bekommt, muss nicht extra Kindergeld beantragen, weil der Staat mit der Geburt des Kindes solche Dinge automatisch in die Wege leitet. „Kinder, die in eine digitale Welt geboren werden, werden niemals ein Amt aufsuchen müssen“, sagte Erika Piirmets, die der Delegation den E-Estonia-Service erklärte.

Die Hamburger Reisegruppe, zu der zahlreiche IT-Experten gehören, war beeindruckt, denn sie unterhielt sich noch lange nach der Präsentation über die Möglichkeiten, die sich mit der Digitalisierung der Behördenlandschaft bieten. „Die Esten setzen bildlich gesprochen alles auf eine Karte“, sagte Senatorin Leonhard. Es geht um Bürokratieabbau, um den Gewinn eines Mehrwerts für die Bürger. „Es ist die Aufgabe des Staates, sich darüber Gedanken zu machen“, sagte die Senatorin, die sich mehr Digitalisierung und Vernetzung der Behördenlandschaft in Deutschland wünscht. Heiraten per Knopfdruck ist aber nichts für sie. „Ich bin bereits verheiratet, auf dem üblichen Weg.“

Im Hafen von Tallinn wird es spannend

Am Nachmittag besuchte die Senatorin den Hafen von Tallinn. Hier betreibt die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) seit 2018 ein Terminal, an dem vor allem Container, aber auch Stückgut und Autos verladen werden. Auch bei diesem Besuch drehte sich alles um Digitalisierung. „Es gehört bei den Esten zur DNA, auf neue Technologien zu setzen“, sagte Riia Sillave, Geschäftsführerin des HHLA-Terminals TK Estonia, an dem im vergangenen Jahr etwa 220.000 Container umgeschlagen wurden. „Hier kann man Neuerungen ausprobieren, die an anderen Standorten aufgrund staatlicher Regularien nicht so leicht umzusetzen sind.

Als Beispiele nannte Sillave ein Energierückgewinnungsprogramm beim Herablassen der Container an den Kränen, mit dem 46 Prozent Energie eingespart werden konnte. Das Programm ist inzwischen an vielen Terminals im Einsatz. Im kommenden Jahr testet der Zoll im HHLA-Terminal Tallinn eine neue Anlage zum Durchleuchten von Containern, um Schmuggelware in der Ladung aufzuspüren. Dabei verzichtet sie auf schädliche Röntgenstrahlung und setzt stattdessen die natürlich vorkommende kosmische Strahlung ein.

HHLA testet fahrerlose Zugmaschinen auf dem Terminal in Tallin

Zu den Neuerungen, welche die HHLA in Tallinn testet, gehört aber vor allem das 2023 ins Leben gerufene Projekt „Fernride“ an dem die Senatorin und die sie begleitende Wirtschaftsdelegation interessiert sind. Dabei geht es um den Einsatz fahrerloser Zugmaschinen, die Container von der Kaikante ins Lager transportieren. Gesteuert werden sie von einem Fahrer, der fernab im HHLA-Gebäude sitzt.

Er hat ein Lenkrad und ein Gaspedal wie ein Fahrer in einem herkömmlichen Fahrzeug auch. Aber vor allem hat er verschiedene Bildschirme vor sich, über die er das Fahrzeug am anderen Ende des Geländes lenken kann. Die Zugmaschine selbst ist mit zahlreichen Kameras ausgestattet, die dem Lenker in Echtzeit das Geschehen vor Ort zeigen.

Weitere Wirtschaftsthemen

Das System ist weltweit führend, weil es nicht nur getestet, sondern bereits im operativen Terminalablauf eingesetzt wird. Noch bedient ein Fahrer ein Fahrzeug. Das System lernt aber immer mehr, Aufgaben selbst zu übernehmen. Ziel soll es sein, dass künftig ein Fahrer bis zu vier selbstfahrende Zugmaschinen überwacht. Für Senatorin Leonhard eine gute Sache: „Es geht also nicht darum, Arbeitskräfte abzubauen, sondern dem Mangel an Fahrern zu begegnen.“

Estland geht voran. Nachdem das Land wie seine baltischen Nachbarn 50 Jahre lang unter dem Joch der sowjetischen Staatsführung gestanden hatte, fängt es nun neu an und nutzt dabei die Möglichkeiten, die ihm technologische Entwicklungen eröffnen.