Hamburg. Die Republik steckt nicht nur in einer konjunkturellen, sondern auch einer strukturellen Krise. Höchste Zeit für eine Agenda 2030.

Wirtschaftsnachrichten sind derzeit eher etwas für Masochisten. Während überall auf der Welt die Industrieländer der Krise trotzen und zumindest geringe Wachstumsraten aufweisen, blinken in Deutschland die roten Vorzeichen. Im laufenden Jahr dürfte die deutsche Wirtschaft um 0,3 Prozent schrumpfen. Und die ersten Experten erwarten für 2024 einen weiteren Rückgang. Deutschland als kranker Mann Europas ist zurück.

Deutschland in der Krise: Wenn der Wohlstand in Gefahr gerät

Manche Beobachter und Politiker sehen die Krise wie der Fußball-Philosoph Jürgen Wegmann: „Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“ Tatsächlich haben viele externe Faktoren die deutsche Malaise ausgelöst: Der Krieg in der Ukraine und die Energiepreisexplosion, das Ende der Globalisierung, die weltweiten Zinserhöhungen.

Aber es kommen noch hausgemachte Probleme hinzu, welche die Politik, die Unternehmen, aber auch die Gesellschaft zu verantworten haben. Der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, bringt es auf den Punkt: „Die Anpassung an all diese Belastungen dürfte auch deshalb lange dauern, weil die Standortqualität seit rund 15 Jahren erodiert.“

Die Wachstumsschwäche ist zu einem beträchtlichen Teil selbst verursacht

Nur wollte es niemand sehen. Die Fehler der Ära Merkel, die mit dem schwarz-gelben Bündnis 2009 ihren Ausgang nahmen und sich dann mit den Großen Koalitionen von 2013 bis 2021 fortsetzen, dringen langsam allen ins Bewusstsein: Ob eine dilettantische Energiewende, die fahrlässige Vernachlässigung der Infrastruktur oder eine überzogene Umverteilungspolitik – es ist, wie die Deutsche-Bank-Legende Alfred Herrhausen einst formulierte: „Die meisten Fehler machen Unternehmen, wenn es ihnen gut geht, nicht wenn es ihnen schlecht geht.“

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) hat als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz derzeit einen undankbaren Job.
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) hat als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz derzeit einen undankbaren Job. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Allerdings hat auch die Ampel in den ersten Regierungsmonaten viele Fehler gemacht, die die Krise verschärft haben. Ein eindrückliches Beispiel ist die Entwicklung der Energiepreise: Zwar ist nun ein teurer Kompromiss gelungen, der die Industrie entlasten soll – aber die Regierung hat die Energiekrise ohne Not vergrößert. Wer ein knappes Gut weiter verknappt, steigert seinen Preis. Allen Warnungen zum Trotz ist die Bundesrepublik trotzdem Mitte April aus der Kernenergie ausgestiegen. Nun lösen wir Probleme, die wir selbst geschaffen haben.

Energiekrise trifft die deutsche Wirtschaft härter als andere

Die Energiekrise – zum einen die gestiegenen Preise, zum anderen die kippelige Versorgungssicherheit – wirkt sich auf die deutsche Industrie verheerend aus: Das jüngste Energiewende-Barometer der Industrie- und Handelskammern, an dem sich 3.572 Unternehmen beteiligt haben, fiel so verheerend aus wie nie zuvor: Drei Viertel der Betriebe fahren demnach ihre Investitionstätigkeiten zurück, fast ein Drittel der großen Industriefirmen plant oder realisiert die Verlagerung von Kapazitäten ins Ausland oder schränkt die Produktion im Inland ein.

„Wir stehen vor der größten Krise seit Gründung der Bundesrepublik“, warnt Folker Hellmeyer, langjähriger Chefvolkswirt der Bremer Landesbank und heute Chefvolkswirt der Hamburger Netfonds AG, seit Langem. Nun hat das Statistische Bundesamt für 2022 einen Rückgang des Energieverbrauchs um 9,1 Prozent gemeldet. Bevor sich jemand freut: Dadurch sank die Produktion um 7,1 Prozent. „Energie war, ist und wird auch in Zukunft Grundlage für unseren Wohlstand sein“, sagt Hellmeyer. „Das gilt im Besonderen für Deutschland als energieintensivsten Standort der westlichen Welt.“

Zeitgleich hat die Schwäche alle Branchen erfasst

Aber es wollte kaum einer hören. Nun bröckeln mehrere Säulen des deutschen Wohlstandes zugleich. 2017 fertigten die Autobauer hierzulande 5,47 Millionen Fahrzeugen, im vergangenen Jahr waren es noch 3,4 Millionen. Zwar ist die Bundesrepublik das Land der Tüftler und der Klimabewegten – beim Elektroauto aber fahren chinesische Hersteller und Tesla vorneweg.

Auch der Maschinenbau erwartet für das laufende und das kommende Jahr ein Minus von jeweils zwei Prozent. Die Chemie- und Pharmaindustrie ist seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges im freien Fall, weil sie mit einem Anteil von 15 Prozent größter Gasverbraucher ist. Nach einem Produktionsrückgang im vergangenen Jahr von zehn Prozent kommt im laufenden Jahr ein Minus von weiteren acht Prozent hinzu.

Die Chemieindustrie warnt: „Das Haus brennt“

„Das Haus brennt“, sagt der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann. „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt. Wenn es uns schlecht geht, folgen bald auch andere.“ Diese Warnungen verhallen fast ungehört, die Talkshows und Medien treiben lieber andere Säue durchs Dorf. Wurde Anfang des Jahrhunderts noch wöchentlich der „Abstieg eines Superstars“ und Deutschland als „kranker Mann“ in Talkshows beklagt, spielte Wirtschaft zuletzt keine große Rolle mehr. Da die Arbeitslosigkeit kaum steigt, sehen wir die Krise nicht.

Die Krise unterschätzen viele - oder finden Gefallen an ihr: Sie glauben an „Degrowth“

Ein Blick auf die Spiegel-Titel als Spiegel der Befindlichkeiten zeigt: Im Januar lautete die Frage: „Hatte Marx doch Recht? Warum der Kapitalismus so nicht mehr funktioniert und wie er sich erneuern lässt“, Ende Mai titelte das Nachrichtenmagazin „Wir machen uns nicht mehr kaputt - Warum die Generation Z anders arbeiten will und damit jetzt alle ansteckt“. Erst im September dämmerte den Blattmachern an der Ericusspitze: „Alle schaffen Wachstum. Wir nicht. Warum die deutsche Wirtschaft abrutscht. Und was helfen würde.“

Der „Spiegel“ steht für viele. Wollen wir die Warnzeichen nicht sehen? Oder kommt die Industrialisierung manchen gar gelegen? Angesichts der Klimakrise werben immer mehr für einen grundlegenden Systemwandel. Das Schlagwort heißt Degrowth und hat durch den Bestseller von Ulrike Herrmann noch einmal mehr Zulauf bekommen. „Würden wir auf die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung verzichten, wären wir immer noch so reich wie 1978. Auch damals ließ es sich gut leben. Es war das Jahr, als Argentinien Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von „Star Wars“ in den Kinos lief. Es gab zwar keine „Flugmangos“ aus Peru, aber wir waren so zufrieden wie heute“, schreibt sie pointiert.

Das grüne Schrumpfen wäre nur mit massivem Verzicht möglich

Konkret heißt das aber: Wer sich „grün schrumpfen“ will, wird den heute verbreiteten Lebensstandard nicht halten können. Da Ökostrom auch in Zukunft knapp bleibt, wären Flugreisen und private Autos bald kaum noch möglich. Um den Umbau der Wirtschaft von Wachstum auf Schrumpfkurs ohne große Verwerfungen zu managen, schlägt die taz-Redakteurin das Modell der britischen Kriegswirtschaft nach 1939 für den geordneten Rückbau und eine Politik der Rationierung vor. Wer die Rufe nach Systemwechsel bei Fridays for Future vernimmt, ahnt: Hermann steht nicht allein. Ob diese Ideen aber national und erst recht international mehrheitsfähig ist?

Der CDU-Politiker Christoph Ploß ist einer der schärfsten Kritiker aller Degrowth-Gedankenspiele: „Ob sichere Rente, Vollbeschäftigung, soziale Absicherung, gute Gesundheitsversorgung, Klimaschutzziele oder eine starke Landesverteidigung – nichts davon ist mit einer linken Verzichts-Ideologie erreichbar“, sagt der Hamburger. Angesichts der Herausforderungen des Klimawandels, aber auch der sozialen Frage, wäre es verheerend, jetzt auf eine „fortschrittsfeindliche Ideologie zu setzen.“

Ein derzeit prägendes Bild in den Fußgängerzonen: Viele Geschäfte schließen
Ein derzeit prägendes Bild in den Fußgängerzonen: Viele Geschäfte schließen © picture alliance / Jochen Tack | Jochen Tack

Ploß findet die Lösung eher bei einem älteren Wirtschaftsklassiker - bei „Wohlstand für alle“ des Wirtschaftswundermachers Ludwig Erhard. „Fleiß, Eigenverantwortung, soziale Marktwirtschaft, eine stabile Industrie und die Erforschung moderner Technologien haben unser Land zu einer der wohlhabendsten Export- und Industrienationen der Welt gemacht“, betont der Christdemokrat. „Wir müssen wieder lernen, auf diese Tugenden stolz zu sein, und verstehen, dass Wachstum auch bedeutet, effizienter mit Energie umzugehen oder mit Innovationen wie der Wasserstoff-Technik einen Beitrag zur weltweiten CO2-Reduzierung zu leisten.“

Viele Deutsche träumen von einer Work-Life-Balance mit viel Leben und wenig Arbeit

Allerdings stellt sich auch hier die Frage, wie mehrheitsfähig Sekundärtugenden in einem Land sind, dem der frühere Außenminister Guido Westerwelle schon 2009 ins Stammbuch schrieb: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern“. Er erntete viel Empörung - und wenig Einsehen.

Bis heute. Aktuell schafft es die Republik zwei Probleme voneinander getrennt zu diskutieren: Den Fachkräftemangel auf der einen Seite und Arbeitszeitverkürzung auf der anderen. Fakt ist: Viele Deutsche träumen von einer Work-Life-Balance mit ganz viel Leben und möglichst wenig Arbeit.

Nur gut jeder Fünfte gab in einer You-Gov-Umfrage an, über den Renteneintritt hinaus zumindest in Teilzeit arbeiten zu wollen. 43 Prozent sagten hingegen, dass sie bereits vor Erreichen des Rentenalters komplett aus dem Job aussteigen wollen. Hinzu kommt die Massenflucht in die Teilzeit. Seit 1991 hat sich der Anteil der Teilzeitjobber auf 29 Prozent verdoppelt. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem sank seitdem von 1554 auf 1340 Stunden, ein Rückgang um 14 Prozent

Wir diskutieren zugleich Fachkräftemangel und Arbeitszeitverkürzung

Nun kämpfen Gewerkschaften für den Einstieg in die 32-Stunden-Woche - das klingt nach Degrowth und könnte auch dort enden. Zumal auch hier die Bundesregierung Probleme lösen muss, die sie selber verschärft hat. Das deutlich großzügigere Bürgergeld hat Hartz IV abgelöst und laut Arbeitgebern fatale Fehlanreize geschaffen. Niedrigverdiener kündigen ihre Jobs und wechseln in das vermeintliche Grundeinkommen. So steigt die Zahl der Empfänger wie die Leistung. Die „Netto-Leistungen je Bedarfsgemeinschaft“ hätten sich „im Vergleich zur Erwartung vom Herbst 2022 dynamischer entwickelt“, heißt es in Regierungssprech. Zumindest hier ist Deutschland dynamisch. Die Mehrkosten liegen bei 3,25 Milliarden Euro.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Zahl der Fachkräfte weiter sinkt - diese Erkenntnis kommt so überraschend wie der Glühwein in der Vorweihnachtszeit. Der demografische Wandel wird in den kommenden Jahren seine volle Wirkung entfalten. „Das Problem ist da und wird von Woche zu Woche größer, weil starke Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden“, sagt Sönke Fock, der Chef der Hamburger Agentur für Arbeit. Knapp über 210.000 der 1,038 Millionen Beschäftigten gehören dieser Altersgruppe an, jeder fünfte Hamburger blickt langsam seiner Rente entgegen.

Immerhin: Es gibt auch noch gute Nachrichten

Das Problem wird sich direkt im fehlenden Wachstum niederschlagen: Die Wirtschaftsweisen erwarten in den kommenden Jahren nur noch ein Potenzialwachstum von 0,4 Prozent - ein Drittel des Wertes des zurückliegenden Jahrzehnts.

Ja, es ist gefährlich, den Standort schlecht zu reden oder gar kaputt zu schreiben. Und es gibt auch gute Nachrichten wie nun die Milliardeninvestition von Eli Lilly. Aber man muss zugleich Probleme benennen: Die Bürokratie wuchert, das Land ist marode wie seine Bahn, die den Deutschland-Takt nun vom Jahr 2030 in die Vierzigerjahre verschoben hat.

Auch Planen, Bauen und Organisieren haben wir verlernt. Die elementar wichtige Stromtrasse in den Süden kommt statt 2022 nun erst 2028, wenn es gut läuft. Der Hauptstadt-Airport BER wurde nicht wie geplant 2011 fertig, sondern 2020, gleich siebenmal musste der Eröffnungstermin verschoben werden. Dafür verdreifachten sich die Kosten von 1,9 Milliarden Euro auf mehr als sechs Milliarden. Die Hamburger können es noch schlechter: Die Elbphilharmonie, so kalkulierte die Stadt, sollte den Steuerzahler 77 Millionen Euro kosten, am Ende wurden es mit 789 über zehnmal so viel.

Warum schaffen die Dänen, woran wir scheitern?

Entlarvend ist auch der Bau des Fehmarnbelt-Querung. Auf deutscher Seite gab es 12.600 Einwendungen, auf dänischer Seite 43. Bei Hamlet hieß es noch, etwas sei faul im Staate Dänemark. Heute käme Shakespeare zu einer anderen Erkenntnis. Immerhin: Die Ampel beginnt umzusteuern. Das neue „Deutschland-Tempo“ wurde erstmals beim Bau der Flüssiggasterminals erreicht. Eine Umsetzung einer solchen Infrastruktur binnen weniger Monate wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Und auch der Zubau alternativer Energien nimmt Fahrt auf.

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Die Ampel möchte nicht mit der Konjunktur in den Abgrund gerissen werden. Denn klar ist: Weder kann die Transformation zu einer klimafreundlichen Industrie gelingen noch die Finanzierung eines großzügigen Sozialstaates, wenn die Wirtschaftsleistung schrumpft. Bislang bestand erfolgreiche Politik darin, Zugewinne zu verteilen. Wenn der Kuchen kleiner wird, fallen am Ende nur Krümel ab.

Die Wirtschaftsweisen fordern bereits einen neuen Reformaufbruch - 20 Jahre nach dem mutigen Umbau des Landes durch Gerhard Schröder (SPD). Sie schlagen höhere Ausgaben im Bildungsbereich und den Ausbau von Forschungsförderung - etwa bei Künstlicher Intelligenz - vor. Und sie empfehlen, mehr und länger zu arbeiten sowie die Erwerbszuwanderung und Integration zu erleichtern.

Es wird höchste Zeit für eine Agenda 2030.