Hamburg. Wir wollen das Weltklima retten, das Flüchtlingsdrama lösen und die Ukraine stärken – schaffen wir das?
Eine meiner Lieblingsfiguren in der Literatur ist Herr Tur Tur aus Michael Endes „Jim Knopf“. Er ist ein sogenannter Scheinriese. Von Weitem aus betrachtet ist er unglaublich groß und schrumpft, je näher er kommt. Die deutsche Leistungsfähigkeit erinnert an Herrn Tur Tur.
Wer von Weitem auf die Kraft der viertgrößten Volkswirtschaft blickt, hält sie für stark und unverwundbar. Je näher man ihr aber kommt, desto mehr zeigen sich Schwächen. Der vermeintliche deutsche Koloss schrumpft auf Durchschnittsgröße.
Deutsche Wirtschaft – die fetten Jahre sind vorbei
Leider blicken die deutsche Politik und Publizistik oft aus einer gewissen Ferne auf Wirtschaft und Land, böse Zungen sagen: aus dem Elfenbeinturm. Ausgehend von den goldenen Zehnerjahren, als die Steuereinnahmen fast schneller stiegen, als die Politik sie ausgeben konnte, und jede Krise rasch überwunden war, überschätzen manche die deutsche Leistungsfähigkeit und übersehen den drohenden Substanzverlust. Mit dem Scheinargument, Deutschland sei ein reiches Land, gibt es einen Wettstreit der Forderungen, welche Lösungen wir für die Weltprobleme finanzieren sollen. Die Politiker werden da Opfer eines Forderungsstakkatos, das aus der Zivilgesellschaft kommt.
Ein aktuelles Beispiel ist die Finanzierung der Ukraine-Hilfe. Weil Kanzler Olaf Scholz zu Recht zögert, auch noch Taurus-Marschflugkörper an das überfallene Land zu liefern, hagelt es bissige bis böse Kommentare. Die friedensbewegte Republik ist längst im Denken militarisiert – es gibt ein verbales wie tatsächliches Wettrüsten. Warum andere Staaten inzwischen auf die Bremse treten, verstehen wir kaum. Dabei ist Fakt, dass nach den USA Deutschland längst bei der humanitären und finanziellen Hilfe die Nummer 2 ist.
Deutschland kommt Sanktionspolitik teuer zu stehen
Hinzu kommen die Kosten einer Sanktionspolitik, die Deutschland immer weiter schwächen: Ohne das russische Gas sind Teile der Schwerindustrie und Chemie nicht mehr wettbewerbsfähig, inzwischen kaufen wir umdeklariertes russisches Öl aus Indien oder Arabien – das macht Russland nicht ärmer, nur uns. Immer mehr deutsche Unternehmen klagen, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, weil andere Staaten die Sanktionen lockerer handhaben. Natürlich muss der russische Aggressor gestoppt werden, aber auch Deutschland sollte seine Kräfte kennen.
Wir wollen nicht nur die Ukraine vor dem hinterhältigen Überfall retten, sondern auch das Weltklima. Ein weiteres hehres und richtiges Ziel; aber eines, das wir aus den Augen verlieren, wenn wir die CO2-intensive Wirtschaft nicht klimafreundlich anpassen, sondern aus dem Land vertreiben. Anders als beim Umweltschutz der 80er-Jahre, als lokale Taten lokale Verbesserungen ermöglichten, klappt Klimaschutz nur global.
Auch bei der Flüchtlingsaufnahme überschätzt sich das Land
Die Frage lautet: Was können wir tun, um weltweit den Ausstoß von Klimagasen zu senken? Doch nur weil wir das Ziel kennen, kennen wir noch nicht den Weg. Wir müssen forschen, ausprobieren, hart arbeiten und klug investieren. Leider machen wir derzeit eher das Gegenteil: Der deutsche Weg zur Klimaneutralität könnte im Falle einer Deindustrialisierung zum Mahnmal werden, wie man es besser nicht macht. Damit wäre keinem geholfen.
Ähnlich ist die Bundesrepublik in der Flüchtlingspolitik unterwegs, wenngleich sich die Anzeichen der Kurskorrektur mehren. Deutschland war über Jahre Bremser bei einer Verschärfung der EU-Regeln und hat zuletzt noch neue Anreize für Migranten geschaffen. Das war gut gemeint, bringt aber das gesamte System ins Rutschen. Die Aufnahme von Migranten hat Grenzen – werden sie überschritten, hat das fatale Folgen für das aufnehmende Land wie für die Zuwanderer selbst. Keiner weiß genau, wo diese Grenze liegt – aber dass sie näher rückt, zeigen die erschütternden Umfragewerte für eine in Teilen rechtsradikale AfD.
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Das Problem: Wir haben unsere moralischen Standards in den Debatten so angehoben, dass schon der Verweis auf nationale Interessen und endliche Möglichkeiten als unmoralisch gilt. Wir überschätzen unsere Kraft und unterschätzen die Kollateralschäden dieser Politik. Wer reich ist, mag am Ende verzichten können, die Ärmeren sehen das etwas anders.
Wir sollten aufpassen, dass wir nicht nur die Welt retten, sondern zur Abwechslung auch mal das Land, in dem wir noch gut leben. Das ist nicht unanständig. Es ist überfällig.