Wie diese Frau ein Containerdorf mit Flüchtlingen leitet
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Hamburg. Rahel Temesgen ist Leiterin des Flüchtlingsheims an der Oktaviostraße. Nach schwierigem Start ist sie nun um Normalität bemüht.
Als der kleine Junge – er ist vielleicht fünf, sechs Jahre alt – erst bedrohlich ins Straucheln gerät und dann von seinem Fahrrad übel in den Schotter abschmiert, sind weder Mutter noch Vater zur Stelle, um ihm zu helfen. Nur Rahel Temesgen steht günstig. Sie zieht den Kleinen aus dem Dreck, klopft ihm den Schmutz von der Hose und sagt, er soll zwischen den Containern ein bisschen besser aufpassen. „Okay, okay“, sagt der Junge, steigt auf sein Rad und fährt los. 30 Sekunden später liegt er wieder auf der Nase.
Erfolgserlebnisse lassen manchmal aus sich warten, das hat Rahel Temesgen in den paar Monaten gelernt, in denen sie nun eine der 14 Erstaufnahmen für Flüchtlinge des städtischen Dienstleisters Fördern & Wohnen leitet. Gerade hier, in der Zentralen Erstaufnahme an der Oktaviostraße in Marienthal, wo es anfangs ganz schnell gehen musste. Als die Zu-wanderungszahlen im August und September enorm anzogen, waren zunächst eilig Bundeswehrzelte auf den ehemaligen Concordia-Grandplatz gepflockt worden. Inzwischen sind die Zelte Containern gewichen. Jetzt, im Dezember, wirkt das fast geordnet. Hamburg hat 55.000 Flüchtlinge aufgenommen, 20.000 davon dauerhaft beherbergt. Mit 9588 Schutzsuchenden im November bewegt sich die Zahl aber nach wie vor auf hohem Niveau.
In den Unterkunften wird nichts geschönt
„Am Anfang ging es nur darum, Strukturen zu schaffen.“, sagt Temesgen. Wachdienst einweisen, Sozialberatung organisieren, Leute beruhigen. Im Ausnahmezustand mussten alle ihre Rolle finden. „Da hieß es jeden Tag: funktionieren, funktionieren, funktionieren.“ Denn aus einem Sportplatz ein Zeltlager für Flüchtlinge zu machen, ist eine Sache. Den humanitären Anspruch nicht zu verlieren, die andere. „Es geht um Schicksale, um Mitgefühl. Da kannst du nicht groß denken. Da musst du da sein.“
Rahel Temesgen ist erst 26 Jahre alt. Sie hat äthiopische Wurzeln, wurde in Henstedt-Ulzburg geboren, bezeichnet sich selbst als Hamburgerin. Sie benutzt Wörter wie „geflasht“ und „tough“ und spricht davon, dass das hier der „real deal“ sei. Dass also nichts geschönt werde, dass es ein anstrengender, aber erfüllender Job sei. Und tatsächlich wirkt sie wie jemand, der Sachen durchzieht, der zu Ende bringt, was er anfängt. Ihre Qualifikation? Bachelor in Gesundheitswissenschaften. Und einige Jahre in Äthiopien. „Kein Strom, kein Wasser, keine Hilfe – ich weiß, wie das ist. Ich kann die Situation der Leute hier gut nachvollziehen.“
Konflikte in Zeltunterkünften mit vielen Menschen nur schwer zu vermeiden
Tür auf, Tür zu, Tür wieder auf. So geht das die ganze Zeit in ihrem Containerbüro. Erst fragt ein Mann „Schule?“. Temesgen versteht. Dann will ein Mitarbeiter der Innenbehörde letzte Termine absprechen. Und eine Kollegin reicht noch Unterlagen rein. Die Chefin ist gefragt, die Chefin wird gebraucht. Probleme mit dem Alter? Sind ihr, den Flüchtlingen und 26 Mitarbeitern fremd. Unglaublich viele junge Leute würden gerade wie sie in der Flüchtlingshilfe ihre Chance bekommen. „Wir sind motiviert, wir haben Drive, da ist das Alter nur eine Zahl“, sagt sie. Sie weine sich abends jedenfalls nicht in den Schlaf ob der Belastung. Im Gegenteil: „Das ist eine Herausforderung.“ Im Übrigen eine, der sich viele Frauen stellen.
Auf dem rotbraunen Sand ist Rahel Temesgen um größtmögliche Normalität bemüht, verdrängt hat sie die Probleme vom Anfang aber nicht, als im Oktober und November die Polizei anrücken musste, weil eine Gruppe Albaner einen Afghanen verprügelt hatte, da dieser die „falsche Toilette“ benutzt haben soll. Und als es wenig später zu einer Schlägerei mit Eisenstangen unter 20 Flüchtlingen kam, bei der fünf Menschen verletzt wurden. Aus Sicht von Rahel Temesgen „Konflikte“, die bei Zeltunterkünften mit vielen Menschen kaum zu vermeiden seien. „Das braucht keiner. Aber es waren keine Massenschlägereien, wie ich sie aus meiner Zeit in großen Camps kenne.“ Als Leiterin müsse man das Angstgefühl abschalten können. Selbst wenn es da sei. „Die Angst lasse ich vor der Tür“, sagt Temesgen. „Wie soll ich jemandem helfen, vor dem ich Angst habe. Das geht nicht.“
An der Oktaviostraße soll es bis Weihnachten Platz für 728 Flüchtlinge geben
Die junge Frau versucht eines nicht zu vergessen: „Die Leute haben ein gutes Leben vor dem Krieg zurückgelassen. Sie müssen hier von vorn anfangen. Da hilft es, wenn man sich einfach nur eine Minute hinsetzt und zuhört.“ Auch in Leitungsfunktion. Klar sei das stressig und fordernd, sie habe ja noch allerhand andere Sachen zu organisieren. Wo soll der Bauzaun hin? Wer kümmert sich um die Deutschkurse? „Aber ich habe ein dickes Fell. Und das Actionreiche, das gefällt mir.“
Aktuell sind 295 Menschen an der Oktaviostraße untergebracht, vor allem Syrer, Afghanen, Albaner. Bis zum 23. Dezember sollen alle Container stehen und dann Platz für 728 Flüchtlinge bieten. Feste, geschlossene Räume dürften die Situation entspannen, hofft die Leiterin. Eine Kita, etwas Kosmetik, das Grün drumherum – Rahel Temesgen ist zuversichtlich, ruhiges Fahrwasser zu erreichen. Zumal die Anwohner sehr entspannt seien, viele Ehrenamtliche aus ihren Reihen kämen, während andernorts in der Stadt gegen 15 Unterkünfte mobil gemacht wird.
In Marienthal scheint der Krach der Anfangszeit dagegen vorerst Geschichte. Möglicherweise auch ein Verdienst von Rahel Temesgen. Es werde viel geredet, Temesgen selbst spricht Deutsch, Englisch und Amharisch. „Außerdem ist Denglisch immer dabei“, sagt sie. Und wo Worte fehlen, wird angepackt. Der kleine Radfahrer etwa liegt schon wieder im Schmutz.
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