Hamburg. Seit einem Jahr startet das Gymnasium Marienthal eine halbe Stunde später. Schulsenator Rabe ist aber gegen eine grundsätzliche Reform.

Als die Klingel zur ersten Stunde läutet, ist alles wie früher. Einige schlurfen noch in Ruhe über den Pausenhof, andere hasten eilig gen Eingangstür. Bis alle Klassen vollzählig sind, wird es Minuten dauern. Daran hat sich nichts geändert, auch nicht an diesem Morgen in Marienthal. Chronische Trödler gab es schon immer, gibt es noch immer und wird es immer geben – egal wie früh oder spät der Unterricht beginnt.

„Die Zuspätkommer kommen immer noch zu spät, klar“, sagt Christiane von Schachtmeyer, Schulleiterin am Gymnasium Marienthal. Darum ging es beim Pilotversuch der Schule gar nicht. Vielmehr sollte eine gesunde Taktung des Unterrichts erreicht werden. Seit einem Jahr startet deshalb die erste Stunde für die etwa 800 Schüler in Marienthal eine halbe Stunde später als in Hamburg üblich – um 8.30 Uhr. „Wir wollten etwas Stress aus dem G8-Alltag nehmen“, sagt von Schachtmeyer. 34 Wochenstunden sinnvoll verteilen – dafür fand sich zwar nur eine knappe Mehrheit in der Schulkonferenz, aber eine Mehrheit. Wobei die Skepsis bei Lehrern und Eltern ausgeprägter war als bei den Schülern.

Und heute, ein Jahr später? „Die Reaktionen sind positiv“, sagt von Schachtmeyer. Im Kollegium werde die nun frei gewordene Vorlaufzeit bis zum Unterrichtsbeginn für Besprechungen genutzt. Die Eltern der Schüler haben sich arrangiert. Und vielen Schülern merke man die halbe Stunde mehr an. „Sie wirken konzentrierter, auch entspannter“, sagt von Schachtmeyer.

Vor allem ab Klassestufe 7, da sind sich sogenannte Chronobiologen einig, ist ein späterer Unterrichtsbeginn sinnvoll. Denn in der Pubertät, das belegen einschlägige Studien, verschiebt sich der Schlaf-Wach-Rhythmus nach hinten.Die Hauptaktivität werde in den späteren Tag verlegt, sagt Thomas Kantermann, Chronobiologe an der Universität Groningen. Wer dann um 8 Uhr in der Schule sitzen müsse, befinde sich eigentlich noch im Schlaf. Gerade wenn es sich um den Chronotyp „Spätaufsteher“, im Fachjargon „Eule“ genannt, handelt, sei Konzentrationszwang um diese Zeit wie ein permanenter Jetlag. Auch für pubertierende Frühaufsteher, die „Lerchen“, sei 8 Uhr nicht ideal.

Familien wollen die Entschleunigung morgens, sagt Manuela Schwesig

Ein Realitätsabgleich in Marienthal bestätigt diese Annahme: „Ich bin ein echter Morgenmuffel“, bekennt etwa Laura Feuerstein aus der Zehnten. „Mit der gewonnenen halben Stunde am Morgen geht es auf jeden Fall besser“, sagt die 15-Jährige. Eine Einschätzung, die ihr Klassenkamerad Max Tang teilt: „Ich kann jetzt vor der Schule noch frühstücken“, sagt er, „und habe das Gefühl, ausgeruhter in den Unterricht zu gehen.“ Alexander Peters will sogar festgestellt haben, konzentrierter in der Schule zu sein. „Gerade morgens komme ich jetzt besser rein.“

Forscher und Bildungspolitiker plädieren seit Längerem für einen späteren Beginn des Schultages in den Mittel- und Oberstufen. Zuletzt hatte sich Ex-Familienministerin Kristina Schröder (CDU) für einen Start um 9 Uhr ausgesprochen. „Viele Familien wünschen sich die Entschleunigung morgens“, sagte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) unlängst. Dafür brauche es einen Wandel in der Wirtschaft, denn „die Eltern sagen auch: Ein späterer Schulbeginn passt nicht zu unserer Arbeitswelt“.

Ein Argument, mit dem auch Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) einer grundsätzlichen Reform eine Absage erteilt: „Ich halte nichts von einem späten Schulbeginn. Das ist an der Wirklichkeit vorbeigedacht.“ Schule entwickle sich zur ganztätigen Bildungs- und Betreuungsstätte. Immer mehr Grundschulen würden um 7 Uhr beginnen, weil Eltern dieses Angebot dringend bräuchten. „Wer jetzt den Schulbeginn nach hinten verlegen will, richtet in vielen Familien Chaos an.“ Rabe bezweifelt, dass Kinder nachmittags um 14 Uhr besser lernen als morgens. Schule soll auf das Leben vorbereiten. „Und da zeigt schon ein Blick auf Hamburg, dass die meisten deutlich vor 9 Uhr ihre Arbeit beginnen.“

Der Hamburger Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt beobachtet dazu eine Zeitverdichtung: „Vor lauter Angst, etwas zu verpassen, checken wir kurz vor dem Einschlafen unsere Mails.“ Der Tag fühle sich länger an, es gebe weniger Mußestunden, das Motto der Gegenwart: Mehr tun in gleicher Zeit.

Das gelte auch für Schüler. Deshalb, sagt Reinhardt allerdings, „sollte Unterricht nicht vor 9 Uhr beginnen und über Mittag gemeinsame Pausen ermöglichen. Statt Hausaufgaben sollte die Schule länger dauern.“ Kinder seien um 8 Uhr nicht wirklich leistungsfähig, da ihr Biorhythmus auf Sparflamme laufe. Reinhardt sagt’s mit Tucholsky: „Gebt den Leuten mehr Schlaf, sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.“

Karin Prien, stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bürgerschaftsfraktion, spricht sich für ein groß angelegtes Pilotprojekt in der Stadt aus. „Nur eine Testschule reicht nicht, um verlässliche Ergebnisse zu erzielen. Es würde sich lohnen, einen späteren Beginn an anderen Schulen zu versuchen“, sagt sie. „Bei guten Ergebnissen sollte man einen späteren Schulstart in den Oberstufen einführen.“

Weil am Gymnasium Marienthal der Ganztag gelebt werde, kollidiere ein später Beginn nicht mit frühen Abgabezeiten der Kinder. „Wir kommen unserer Betreuungspflicht ab 7.45 Uhr nach“, sagt Christiane von Schachtmeyer. Zudem dauere der Tag auch nur bis 16.05 Uhr, weil die Mittagspause auf eine Stunde verkürzt wurde. Wie sich der spätere Unterrichtsbeginn auf die Marienthaler Schüler auswirkt, will der Chronobiologe Thomas Kantermann in einem Projekt untersuchen.

Vortrag zum Thema

Wann?
Heute Abend (19 Uhr) referiert der Chronobiologe Thomas Kantermann (Universität Groningen) zum Thema „Schulanfang für Teenager schon 8 Uhr? Bloß nicht!“ Im Anschluss darf diskutiert werden.
Wo?
Im Gymnasium Marienthal, Holstenhofweg 68, www.gymnasium-marienthal.de