Klaus Veldhoen betreibt seit fast 30 Jahren das Fischhaus Sasel. Doch obwohl das Geschäft gut läuft, denken er und seine Familie über einen Verkauf des Traditionsunternehmens nach.
Hamburg. Eingetragen sind sie als Veldhoen Fischfeinkost, doch am Telefon melden sie sich mit „Fischhaus Sasel“. Und über dem Geschäft selbst steht sogar nur „Fische“. Ein altmodischer Schriftzug in Türkis-Weiß, wie aus der Zeit gefallen. Untypisch für heutzutage, aber typisch für das Geschäft am Saseler Markt 12. Denn den dortigen Fischladen gibt es schon mehr als 80 Jahre, immer mit dem gleichen Schriftzug.
Die Besitzer haben gewechselt, die Schrift über dem Schaufenster aber nicht. Nie. Selbst als sie vor vier oder fünf Jahren bei Dacharbeiten von einem herabfallenden Stück zerstört wurde, hat Klaus Veldhoen die Leuchtgas-Reklame nicht ersetzt, sondern aufwendig restaurieren lassen. Weil sie das Erkennungszeichen des Geschäftes ist. Weil der ideelle Wert unersetzbar ist. Und weil das „Fische“ am Geschäft genauso dazugehört wie die Fische im Geschäft.
Bettina Veldhoen, 56, hat viel zu erzählen, aber wenig Zeit. Ende der Woche ist am meisten zu tun, bis zu 250 Kunden haben sie freitags im Laden, sonst sind es rund 150. „Freitag ist traditionell eben immer noch Fischtag“, sagt Bettina Veldhoen. Sie lässt die Schürze beim Gespräch umgebunden, damit sie jederzeit nach vorne in den Laden laufen kann, wenn es eng wird. Wenn ihre Mitarbeiter Hilfe brauchen. Wenn der Chef gebraucht wird. Eigentlich ist das ja ihr Mann Klaus. Doch Bettina Veldhoen muss ihn vertreten. Seit neun Monaten. Seit Klaus Veldhoen, 62, Leukämie bekam.
Seit er eine Chemotherapie machen musste, eine Knochenmark-Transplantation erhalten hat. Und seit er nicht mehr in den Laden kann. „Wenn er dürfte, würde er sofort wieder arbeiten“, sagt Bettina Veldhoen. Doch er darf nicht. Weil sein Immunsystem komplett zerstört wurde. Weil er nur noch eine leere Hülle ist, wie er es selbst nennt. Und weil die Arbeit im Laden deswegen für ihn lebensgefährlich ist, es zu viele Risiken gibt. Die Keimbelastung. Die Gefahr, sich beim Kundenkontakt einen Virus einzufangen. Oder sich bei der Arbeit an einem Messer oder dem Stachel eines Fisches zu verletzen und zu infizieren. Zu sterben. Der Laden, der immer sein Leben war, könnte jetzt sein Tod sein.
Trotzdem: „Klaus ist immer noch Chef. Ich vertrete ihn nur, bis er wiederkommt“, sagt Bettina Veldhoen. Das ist ihr wichtig. Das sagt sie immer wieder. Wie ein Mantra. Das gibt ihr Hoffnung. Kraft. Kraft, um morgens um vier Uhr aufzustehen und zum Fischmarkt zu fahren. Um bis 18 Uhr im Laden zu stehen. Und danach die Buchführung zu machen. Um Klaus zu vertreten und sich gleichzeitig um ihn zu kümmern. Ihr Arbeitstag ist doppelt so lang wie bei anderen, die Belastung auch. Eintauschen will sie das alles trotzdem nicht. Den Laden verkaufen? So wie ihr Mann das vorgeschlagen hat, als er krank wurde? Niemals! Weil der Laden ihr Leben ist. Ihr geholfen hat, alles durchzustehen. Und weil er das Lebenswerk von Klaus ist. Sie ihm das nicht auch noch nehmen wollte, nachdem ihm seine Krankheit sonst fast alles genommen hat. Freunde. Freizeit. Freiheit. „Außerdem habe ich nie daran gezweifelt, dass er wiederkommt“, sagt sie. Deswegen sei es damals undenkbar gewesen, das Geschäft zu verkaufen, womöglich sogar zu schließen. Weil Klaus doch einen Lebensinhalt brauchte! Etwas, woran er denken kann. Woran er sich festhalten kann.
Klaus Veldhoen liebt die Arbeit im Geschäft, den Kontakt mit den Kunden. Das Beraten, Verkaufen, Schnacken. Und die Selbstständigkeit. Vor fast 30 Jahren hat er das Fischhaus am Saseler Markt übernommen, doch schon Jahre vorher, Ende der 70er, haben er und Bettina sich das erste Mal selbstständig gemacht und die Gaststätte vom Tennis-Club Groß-Borstel geführt. „Das war eine tolle Zeit“, sagt Klaus Veldhoen und erzählt, wie sie sich für den Job beworben haben. Sie, eine junge Hotelkauffrau, und er, ein Koch. Beide angestellt im Hotel Reichshof in Hamburg. Beide voller Ideen und Tatendrang. Aber ohne Möglichkeit, sich auszuleben. Als sie im Abendblatt die Anzeige sehen, „Gastronomie-Ehepaar gesucht“, bewerben sie sich. Und weil der Club auf ein Ehepaar besteht, verloben sie sich sogar, um den Job zu bekommen. Ein Job von morgens um neun bis spät in die Nacht, sieben Tage die Woche. Im Sommer läuft das Geschäft gut, im Winter schlecht. So schlecht, dass sie sich Nebenjobs suchen müssen. Bettina im Hotel, Klaus auf dem Wochenmarkt. Bei einem Fischstand.
Wenn die Veldhoens reden, ziehen sie in den Bann. Sie gestikulieren mit den Händen, erzählen Anekdoten, fallen einander ins Wort und ergänzen die Sätze des anderen. Und lachen. Viel. Und immer wieder. Trotz allem. Oder gerade deswegen. „Das Leben muss ja weitergehen“, sagt Bettina Veldhoen. Es ist eine dieser Lebensweisheiten, dahingesagt, wenn andere Worte fehlen. Doch Bettina weiß, wovon sie spricht. Sie hat selbst vor drei Jahren Krebs gehabt. Hat gelernt, dass es weitergeht. Egal, was kommt. „Aber jetzt lassen Sie uns nicht immer über Krankheiten sprechen“, sagt sie. Sondern lieber über das Geschäft.
Gut läuft es, so die Interims-Chefin. Zu den Zahlen soll sich aber lieber Klaus äußern. „Wir stehen am Rande eines mittelständischen Unternehmens“, sagt er und erzählt, dass man ab einem Umsatz von 500.000 Euro jährlich als mittelständisches Unternehmen gilt. „Zu meinem Kummer haben wir es nicht geschafft, diese Grenze zu knacken“, sagt er. Dann überlegt er und fügt noch etwas hinzu: „Noch nicht.“ Wenn man Klaus Veldhoen fragt, warum der Laden im Vergleich zu vielen anderen so gut läuft, sagt er meistens, dass er Glück hatte. Glück, weil die Kaufkraft vor Ort groß ist. Weil seine Kunden frischen Fisch lieber bei ihm kaufen als beim Discounter. Und weil er sich deswegen nicht auf einen Preiskampf mit der Konkurrenz einlassen muss. Aber er weiß, dass das nicht überall so ist. Dass viele Fischläden kaputtgehen. Er weiß, dass er Glück hat. Zumindest, was das Geschäft angeht.
Doch das war nicht immer so. Denn das Geschäft lief nicht immer gut. Im Gegenteil: „An meinem ersten Tag hab ich gedacht, ich hab den größten Fehler meines Lebens gemacht“, erinnert sich Klaus Veldhoen. Am 2. Januar 1985 war das. Den Gastrobetrieb im Tennis-Club, die Selbstständigkeit, hatten sie längst aufgegeben, weil die Doppelbelastung durch Restaurant und Nebenjob zu groß geworden war. Sie waren wieder Angestellte. Bettina als Gastronomieleiterin im Rosenhof, Klaus als Koch im Hotel Rosengarten in Poppenbüttel. Die dortige Küche wird von einem nahe gelegenen Fischgeschäft beliefert: vom Fischhaus am Saseler Markt. Durch Zufall hört er, dass der damalige Besitzer einen Nachfolger sucht, weil seine eigenen Tochter den Laden nicht übernehmen will. Es ist keine spontane Entscheidung, die Klaus Veldhoen trifft. Sondern ein langer Prozess. Einen Monat überlegt er. Wiegt Vor- und Nachteile ab. Bespricht sich mit seiner Frau. „Dabei hatte ich damals keine Ahnung von Fisch“, sagt sie. „Das hast du heute ja noch nicht mal“, sagt Klaus Veldhoen und lacht. Dann erzählt er weiter.
Wie er sich schließlich zur Übernahme des Traditionsgeschäftes entschließt, das 1932 von Familie Roehrs gegründet wurde. Wie er zur Bank geht, um einen Kredit über 70.000 Mark für die Ablösesumme zu beantragen – und abgewiesen wird. Zweimal. Weil die Banken das Geschäft für zu unsicher halten. Und wie er schließlich über seine Schwiegereltern, die selbst eine Edeka-Filiale in Volksdorf haben und bei der Bank bekannt sind, einen Kredit bekommt. Andere mögen es normal finden, Schulden zu haben. Klaus Veldhoen nicht. Seine Eltern haben ihn dazu erzogen, keine Schulden zu machen. Deswegen will er den Kredit so schnell wie möglich tilgen und zahlt jeden Euro Gewinn aus dem Laden an die Bank. Vier Jahre dauert es, dann ist er schuldenfrei. Bis dahin lebt die Familie von Bettinas Gehalt, die weiterhin im Rosenhof arbeitet. Weil es sicherer ist. Weil das Geschäft anfangs einfach zu schlecht läuft. Weil die Kunden wegbleiben, eher zum Fischmann auf dem Wochenmarkt gehen als zum Fischladen am Saseler Markt. Woran das liegt? Klaus Veldhoen windet sich wie ein Aal. Weil er Angst hat, dass ein Erklärungsversuch als Kritik an seinem Vorgänger gewertet werden könnte. Und das will er nicht. Wie er die Wende geschafft hat? Er lacht: „Glück!“, meint er, doch seine Frau geht dazwischen. Nein, sagt sie. Mit Glück hatte das nichts zu tun.
Sie hat in den vergangenen 30 Jahren erlebt, wie Klaus Veldhoen den Laden zu dem gemacht hat, was er heute ist. Nicht nur, weil er gut verkaufen kann, ein richtiges Verkaufstalent sei. Sondern weil er so viel über Fische weiß. Weil er bei der Auswahl berät und Tipps zur Zubereitung gibt. Klar, dann ist er in seinem Element, als Koch. Und weil er Prinzipien hat. Nur den Fisch im Sortiment hat, von dem er selbst überzeugt ist. Was er selbst nicht essen würde, verkauft er auch nicht. Pangasius und Tilapia-Filet zum Beispiel. Oder Viktoriabarsch. „Weil ich es ablehne, hier Fisch aus Afrika zu verkaufen, während die Menschen dort selbst verhungern“, sagt er. Außerdem sei es undenkbar, Fische aus dem gleichen See zu essen, in dem während des Bürgerkrieges in Ruanda Tausende von Leichen trieben. „Da wird mir schon bei dem Gedanken schlecht“, sagt er entschieden. Wenn es um die Qualität geht, wird er ernst. Dann spricht er nicht mehr von dem Glück, das sie hatten, sondern von der erstklassigen Ware, die sie verkaufen. Mehr als 300 Kilo Frischfisch sind es pro Woche. „Diesen Qualitätsanspruch können wir nur halten, wenn wir alles wegschmeißen, was zu lange liegt“, sagt er. In der Praxis sind das rund vier Kilo wöchentlich, die in den Müll müssen. Ob ihm das leid tut? „Nein! Wenn ich minderwertige Qualität verkaufen würde, wäre das viel schlimmer als sie wegzuwerfen.“
Bei ihm wird nichts mit nach Hause genommen, nichts verarbeitet. Alles muss frisch sein. Auch die hausgemachten Salate, die sie im Angebot haben. Mehr als 30 verschiedene Sorten sind es. Rund 180 Kilo werden davon wöchentlich verkauft, außerdem fast 300 Fischfrikadellen. Aus Seelachs oder aus Flusskrebsen mit Ingwer und Avokado. Das Rezept hat sich Klaus ausgedacht. Das liegt ihm. Rezepte ausprobieren, Kochtipps geben. Wenn es gewünscht ist. „Ich will mich nicht aufdrängen“, sagt er. Tut er auch nicht. Und das schätzen die Kunden. „Viele wollen nur von ihm bedient werden, vor allem Frauen“, sagt Bettina Veldhoen. Sie macht Spaß. Doch dann wird sie ernst. Erzählt, wie viele Kunden nach ihrem Mann fragen. Ihm Blumen und Bücher schicken. Und sich für ihn typisieren lassen wollten. Ihm ihr eigenes Knochenmark spenden wollten.
Fünf Mitarbeiter gibt es im Fischhaus Sasel. Einer davon ist Sascha. Er ist 26 Jahre alt und der Sohn von Bettina und Klaus. Er ist im Fischladen seiner Eltern groß geworden, hat im Hinterzimmer auf dem Boden Lego gespielt und am Schreibtisch im Büro seine Hausaufgaben gemacht. Er hat auf dem Sofa geschlafen, wenn er krank war und seine Eltern ins Geschäft mussten. Und er hat immer mitgeholfen. Schon während er noch zur Schule gegangen ist, später dann während des Studiums. Er hat Business Administration an einer Privatschule studiert, im November seine Abschlussarbeit geschrieben. Eine Woche später ist sein Vater krank geworden. Ob er das Geschäft übernehmen möchte, haben seine Eltern damals gefragt. „Nein“, hat er gesagt. Weil er weiß, wie viel Arbeit der Laden macht. Wie hart man arbeiten muss. Und weil er nicht studiert habe, um dann Fische zu verkaufen. Er ist im Fischgeschäft groß geworden, aber er will hier nicht alt werden. Trotzdem will er seine Eltern natürlich nicht hängen lassen. Setzt jetzt ein Jahr lang aus, bis eine Lösung gefunden ist. Bis es seinem Vater besser geht. Oder seine Mutter den Laden alleine weiterführt. Oder das Geschäft vielleicht doch verkauft wird. Ja, denn auch das kann sich Bettina Veldhoen inzwischen vorstellen. Aber nur, wenn sie weiterhin dort arbeiten kann. Denn der Laden ist längst nicht mehr nur das Lebenswerk ihres Mannes. Sondern auch ihr eigenes. Egal, was an der Hausfassade steht.
Alle bisherigen Folgen der Abendblatt-Serie „Helden des Handels“ gibt es im Internet unter www.abendblatt.de/themen/helden-handel/