Teil 4: Olaf Mertens hat vor drei Jahren Feinkost Ahrend in Blankenese übernommen. Schon Heinz Rühmann war hier Kunde. Ein Gespräch mit Mertens ist vergleichbar mit einem Einkauf in seinem Feinkosthaus.
Er ist kein gebürtiger Ahrend. Kein Familienmitglied. Kein Sohn oder Enkel des Firmengründers. Kein Neffe oder Schwiegersohn. Er hat nicht in die Familie eingeheiratet, sondern ist als Nachfolger ausgesucht worden. Ausgewählt. Auserwählt. Denn er war der Einzige, dem die Familie Ahrend ihr Traditionsunternehmen übergeben wollte, als es zum Verkauf stand. Als sich herauskristallisierte, dass die eigenen Kinder das Feinkosthaus nicht weiterführen wollen, andere Laufbahnen einschlagen. Olaf Mertens war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 28 Jahren bei Feinkost Ahrend in Blankenese. Während andere in diesem Alter Kredite für Häuser aufnehmen, lieh sich Olaf Mertens mithilfe der Familie Ahrend bei der Bank Geld für die Firmenübernahme. Der Preis? Betriebsgeheimnis, na klar. Verraten wird lediglich, dass Paul Ahrend 1948 einen Kredit von 10.000 Mark aufnehmen musste, um das Geschäft aufzubauen. Es sei der Familie nicht ums Geld gegangen, heißt es von den Ahrends. Sondern darum, dass das Unternehmen weiterbesteht. Dass es im Sinne der Familie weitergeführt wird. Und dass die langjährigen Mitarbeiter ihren Job behalten.
Olaf Mertens, 46, ist ein Hamburger Jung, geboren in Rissen. Wenn er von seiner Kindheit erzählt, spricht er von seiner Zeit als „lütten Buttje“. Eine Zeit, die er im Blumenladen seines Vaters verbringt und mit Oma Erna, die sich nach dem Tod der Mutter erst einmal um ihn und seine Brüder kümmert. Die in der Nähe wohnt und jeden Morgen vorbeikommt, um Frühstück zu machen und Stullen für die Schule zu schmieren. Herzhaft, mit Mettwurst, Salami und Schinken. Die in der ersten Zeit seine Mutter ersetzt, und ein bisschen auch seinen Vater, der viel arbeiten muss. Die Familie hat zwei Blumenläden in Wedel, einen direkt am Bahnhof. Sieben Tage die Woche ist hier geöffnet, von sieben bis 20 Uhr. Wenn Olaf Mertens nicht in die Schule muss oder Ferien hat, fährt er mit seinem Vater um fünf Uhr morgens zum Großmarkt, Blumen einkaufen. Er mag die Atmosphäre, die Leute. Die ihm etwas zustecken, Bonsche oder so, und ihn den „kleinen Herrn Mertens“ nennen. Der Blumenladen wird zu seinem Zuhause. Er geht zum Mittagessen dorthin, zum Hausaufgabenmachen, zum Helfen. Und er lernt, wie man Kunden behandelt.
„Sei höflich, aber ehrlich. Spiele nichts vor“, sagt sein Vater Heinz-Otto immer. Die hanseatische Kaufmannsehre steht bei ihm an erster Stelle. Nicht das Geld. „Am wichtigsten ist der Kunde“, ist damals die Firmenphilosophie im Blumenladen des Vaters – und heute im Feinkosthaus des Sohnes. Wie der Vater, so der Sohn. Olaf Mertens hat viel von seinem Vater übernommen. Aber nicht dessen Laden. Blumen seien nicht sein Ding gewesen sagt er. Zuckt mit den Schultern. Das sei nicht zu ändern gewesen, Lebensmittel hätten ihn einfach mehr interessiert. Vielleicht, weil er viel Zeit mit seiner Oma in der Küche verbracht hat. Oder weil er als Kind im Garten ein eigenes Gemüsebeet hatte, direkt neben dem Baumhaus. Er bekommt ein paar Tüten mit Samen geschenkt, sät Radieschen, Karotten, Schnittlauch und Petersilie aus. Jeden Tag läuft er in den Garten, jeden Tag kniet er im Beet und beobachtet die Veränderungen, jeden Tag wartet er auf die Ernte. „Das war einfach spannend, dass man die Sachen auch essen konnte – und nicht nur anschauen durfte wie Blumen“, sagt Olaf Mertens. Heute gibt es das Gemüsebeet nicht mehr. Heute stehen dort Rhododendron.
Ein Gespräch mit Olaf Mertens ist vergleichbar mit einem Einkauf in seinem Feinkosthaus. Seine Antworten sind so ausgewählt wie die Waren in den Regalen. Beim ersten Eindruck scheint beides rar zu sein. Doch dann gibt es immer mehr zu entdecken. Im Laden. Und in der Vita von Olaf Mertens. Dass er als Jugendlicher Fußball gespielt hat, beim Rissener SV und dem TSV Sülldorf. Dass er auf dem Weg zum Training beim Feinkosthaus Ahrend vorbeifährt und jedes Mal fasziniert von der Schaufensterdekoration mit der nostalgischen Waage und den Emailleschildern ist. Dass er sich zuerst bei Feinkost Kröger in Rissen beworben hat, aber nie eine Antwort bekam. Und dass genau das das Beste ist, was ihm passieren konnte. Weil Kröger längst schließen musste. Wie so viele Feinkostbetriebe. Heimerdinger, Kruizenga, Börcherts. Die Geschäfte gibt es nicht mehr, doch die Namen bleiben in Erinnerung.
Das erste Mal vergisst man nie, heißt es. Den ersten Schultag, den ersten Kuss, den ersten Arbeitstag. Bei Olaf Mertens ist es das erste Mal bei Ahrend im Laden. Es ist bei seinem Vorstellungsgespräch. Er trägt ein neues Sakko und eine schmale Lederkrawatte, typisch für die 80er, in „Lila oder Gelb“, sagt er. Und das Gespräch? Reine Formalie. Der Chef, Paul Ahrend, guckt sich nur kurz die Zeugnisse an, dann zeigt er Olaf Mertens seinen zukünftigen Arbeitsplatz. Den Laden. Den Laden, von dem heute nichts mehr so ist wie früher, doch an den sich Olaf Mertens so gut erinnern kann, wie an sein Elternhaus. Vor allem an die Weinecke. An den Wänden hängen Weinreben aus Plastik und Fotos von Prominenten, die hier einkaufen. Peter Frankenfeld, Heinz Rühmann. „Die Filme hat mein Vater so gerne geschaut“, sagt Olaf Mertens. Sein Vater, der ihn immer in seinen Entscheidungen unterstützt hat. Sogar dann, als Olaf nicht den elterlichen Blumenladen übernehmen wollte. Oder gerade dann. Weil seine Eltern selbst wissen, wie viel Arbeit das Geschäft macht. Weil sie nicht wollen, dass ihr Sohn sich so abrackern muss wie sie selbst.
Obwohl: Abrackern muss sich Olaf Mertens trotzdem. „Die Lehrjahre waren schon hart“, sagt er und erzählt, wie streng Paul Ahrend war. Die Mitarbeiter müssen Schlips tragen, wer morgens ohne kommt, muss wieder gehen. 30 Jahre ist das jetzt her, und obwohl Olaf Mertens alles selbst erlebt hat, erscheint ihm heute vieles von damals unvorstellbar. Dass sie damals draußen an der Markise tote Fasane zum Verkauf aufhängen, bis es Proteste von Tierschützern gibt. Dass viele Kunden damals im Rolls-Royce vorfahren oder ihre Butler und Dienstmädchen zum Einkaufen schicken. Mitte oder Ende der 1980er-Jahre muss das gewesen sein.
Es ist die Zeit, als Olaf Mertens gerade seine Lehre als Einzelhandelskaufmann macht. Und als Geschäftsgründer Paul Ahrend das Feinkosthaus an seinen Sohn Wolfgang übergibt. Wolfgang Ahrend, der seine Lehre bei Feinkost Heimerdinger am Neuen Wall gemacht hatte und nach seinem Einstieg im väterlichen Betrieb den Feinkostbereich zusammen mit seiner Frau Renate aufbaute. Er nimmt selbst gemachte Salate und kalte Platten mit ins Sortiment auf, legt den Grundstein der feinen Küche, die es bis heute gibt.
Feine Küche. Feine Kost. Feinkost. Das sind für Olaf Mertens frische und selbst gemachte Produkte, die entweder direkt im Geschäft gefertigt werden, oder von kleinen Manufakturen stammen. Fein und köstlich eben. Von Erzeugern, die in Handarbeit und kleinen Mengen produzieren – im Gegensatz zu maschinell und in Massen hergestellten Produkten. So wie der „Catch up“, der von einer Küchenmanufaktur in Hamburg in Eigenproduktion hergestellt wird, ohne Konservierungsstoffe und künstliche Zusätze. Oder der Joghurt, der direkt von einem Bauernhof in Südfrankreich stammt und dort mit der Hand abgefüllt wird. Oder die Salate, die bei Ahrend jeden Morgen frisch zubereitet werden. 20 verschiedene Sorten gibt es, von jeder werden drei bis vier Kilo hergestellt. „Da wir unsere Küche direkt im Haus haben, können wir sofort reagieren, wenn wir Nachschub brauchen“, sagt Olaf Mertens. Die Küche befindet sich über dem Laden, im ersten Stock. Hier bereiten ein Chefkoch und zwei Beiköchinnen, sogenannte Kaltmamsell, ab sieben Uhr morgens die hausgemachten Salate, Desserts, Kuchen und den Mittagstisch zu. Allein 70 Kilo Salat sind es täglich, außerdem 60 bis 80 Mittagessen. Sogar ein Altenheim in Rissen wird damit beliefert. Rund 30 Prozent des Gesamtumsatzes werden inzwischen mit dem Verkauf hausgemachter Spezialitäten erzielt. Tendenz steigend.
Mittagszeit bei Ahrend. Der Laden ist voll, die Angestellten schneiden Wurst ab, jede Scheibe frisch, helfen bei der Weinauswahl, verpacken Präsentkörbe, tragen Taschen zum Auto, liefern Waren nach Hause, kostenlos natürlich. Endspurt vor der Mittagspause. Um 13 Uhr schließt das Geschäft für zwei Stunden. Ungewöhnlich aber notwendig, sagt Olaf Mertens. „Da die Arbeitszeit ohne Mittagspause zu lang für eine Schicht wäre, müssten wir zwei Schichten besetzen und doppelt so viele Mitarbeiter haben“, so Mertens. Doch so viel qualifiziertes Fachpersonal sei nicht zu bekommen. 16 Mitarbeiter hat er, 70 bis 80 Prozent davon in Vollzeit. Obwohl Mitarbeiter das falsche Wort ist, findet Renate Ahrend. Seit sie und ihr Mann Wolfgang das Geschäft vor drei Jahren an Olaf Mertens übergeben haben, kommt sie fast täglich vorbei. „Für uns sind das keine Angestellten, sondern Familienmitglieder“, sagt sie. Klingt ein bisschen pathetisch, kommt aber von Herzen. Weil sie diese Erfahrung in den 43 Jahren gemacht hat, in denen ihr Mann Wolfgang Ahrend das Geschäft betrieben hat. „So ein Geschäft kann man nur mit vollem Einsatz führen und wenn alle zusammenarbeiten. Wenn alle an einem Strang ziehen. Wenn jeder mit anpackt“, sagt sie. So hat ihr Schwiegervater das gemacht, so haben sie und ihr Mann das gemacht, so macht es Olaf Mertens.
„Ich halte nichts davon, den Chef zu spielen. Ich will an der Basis sein“, sagt Olaf Mertens und meint: Er will den direkten Kontakt haben. Zu den Manufakturen, die er regelmäßig besucht. Zu den Großhändlern auf dem Großmarkt, wo er alle zwei Tage einkauft. Und zu den Kunden. Rund 300 sind es pro Tag, 80 Prozent davon kennt er mit Namen. „Das ist bei uns Pflicht“, sagt er und klingt zum ersten Mal ein bisschen streng. So wie der Chef eben. „Ich möchte, dass alle mit Namen angesprochen werden.“ Und zwar nicht nur Promis wie Otto Walkes oder Sky du Mont, die hier einkaufen. Sondern jeder, der den Laden regelmäßig betritt. Seine Stammkunden sind nicht nur namentlich bekannt, sondern ihre Vorlieben zudem in einer Kundenkartei erfasst. Klingt nach einem Fall für den Datenschutzbeauftragten, ist es aber nicht. Sondern ein besonderer Service. „Damit wir sofort Bescheid wissen, wenn ein Kunde sagt, dass er den gleichen Wein wie letztes Mal möchte – sich selbst aber nicht an die Sorte erinnern kann“, sagt Olaf Mertens.
Sein Konzept geht auf, seine behutsame Modernisierung des Traditionshauses scheint zu klappen. Die Umsätze steigen jährlich, der Kundenstamm wächst kontinuierlich. „Wir profitieren davon, dass die Menschen wieder mehr Wert auf Frische und Qualität von Lebensmitteln legen“, sagt Olaf Mertens. Das wäre doch ein guter Schlusssatz, oder? Ach nein, etwas Wichtiges gibt es noch zu sagen: Dass er den Laden gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Olga Heffele, 34, führt.
Genauso, wie schon Wolfgang und Renate Ahrend das Feinkosthaus als Paar geführt haben. Weil es nur gemeinsam geht. Weil die Partnerschaft hinter dem Geschäft zurückstehen muss und das nur klappt, wenn das beide verstehen. Wenn beide zusammenarbeiten. Wo er Olga kennengelernt hat? Hier, im Laden natürlich! Genauso, wie schon Feinkostgründer Paul Ahrend seine zweite Frau Betty einst in diesem Laden kennengelernt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
In der Serie „Helden des Handels“ stellen wir regelmäßig kleine Geschäfte vor, die einzigartig und unverwechselbar sind. Die dafür sorgen, dass der Einzelhandel vielfältig bleibt und nicht überall gleich wird. Senden Sie Ihre Vorschläge an: wirtschaft@abendblatt.de