Hamburg. Die Okekes ziehen in das neue Gebäude in Dulsberg. Sie werden bis Jahresende vier Kinder aufnehmen. Weitere Kinderdorf-Eltern gesucht.
Joshua (19) kommt etwas später als seine Eltern zum Termin, um die Baufortschritte ihrer künftigen Wohnung in Hamburg-Dulsberg gemeinsam zu begutachten. Christina und Prince Okeke haben schon die zwei modern gekachelten Badezimmer entdeckt. Auch die große Wohnküche, als Treffpunkt der sieben Bewohner gedacht, ist schön geschnitten. Die drei sind die Premieren-Familie für Hamburgs erstes SOS-Kinderdorf und wollen dort im Sommer einziehen.
Weitere vier Kinder anderer Eltern kommen dann zeitversetzt hinzu und leben mit Familie Okeke zusammen, bis sie erwachsen sind – wenn alles gut passt. „Wir werden hier mitten in der Stadt wohnen. Zwar nicht in einem Haus mit Garten wie in den traditionellen SOS-Kinderdörfern auf dem Land. Aber wir haben noch einen Schrebergarten, den erreichen wir mit dem Fahrrad in einer halben Stunde“, sagt Christina Okeke. Die Diplom-Sozialpädagogin wird die SOS-Kinderdorfmutter sein, Ehemann und Sohn leben dann auch in der Wohnung – sofern Abiturient Joshua einen Jura-Studienplatz in Hamburg bekommt.
Hafen für Familien direkt neben der Kirche
Das Gebäude vom SOS-Kinderdorf heißt „Hafen für Familien“ und steht direkt neben der Kirche an der Straßburger Straße in Dulsberg. Dort sollen nach und nach bis zu zwölf Kinder und Jugendliche in drei SOS-Kinderdorffamilien ein neues Zuhause finden. Im August dieses Jahres wird Familie Okeke als Erste in eine der mehr als 200 Quadratmeter großen Wohnungen des Wohnkomplexes einziehen. Für die dritte Wohnung wird noch eine SOS-Kinderdorfmutter oder ein -vater gesucht.
Der „Hafen für Familien“ wird ein sozialer Anlaufpunkt auch für andere Bewohner aus dem Stadtteil. Das Angebot umfasst ein Familiencafé, Kursräume zum Beispiel für die „Musikkinder Dulsberg“, einen Kinderkleiderladen oder Hausaufgabenhilfe. Die Dulsberger können sich dort treffen und vernetzen, für Nachbarschaftshilfe oder die Teilnahme an Eltern-AGs. Im Stadtteil Dulsberg begann die Hilfe von SOS-Kinderdorf für Hamburger Kinder schon vor fast 50 Jahren. Doch nun werden hier endlich auch SOS-Kinderdorffamilien leben.
Beruf verbindet Arbeit und Privatleben
„Höchste Zeit“, findet Torsten Rebbe, Leiter SOS-Kinderdorf Hamburg, „denn die Kinder sollten möglichst dort wohnen, wo sie bisher ihre Freunde, Schule oder den Sportverein hatten.“ Die Organisation lebt von Spenden – auch der Abendblatt-Verein unterstützt hier.
Wer als Familienmutter oder -vater im SOS-Kinderdorf arbeitet, hat sich einen Beruf ausgesucht, der Arbeit und Privatleben miteinander verbindet, auch wenn freie Tage und Urlaub genommen werden wie bei anderen Jobs. Die Erziehenden werden lange vorbereitet und „getestet“. Durch Hospitationen in anderen SOS-Kinderdorffamilien lernen sie das Leben in einer solchen Gemeinschaft kennen, werden geschult und haben später im Beruf immer Ansprechpartner und unterstützende Fachkräfte an ihrer Seite.
Theologe und Pädagogin sorgen für die Kinder
Familie Okeke geht diesen besonderen Schritt in ein neues Familienmodell wohlüberlegt. Die Idee begleitete sie einige Jahre, bevor der Entschluss feststand. Christina Okeke ist seit 30 Jahren im pädagogischen Bereich tätig, ihr Mann Prince Ossai Okeke hat interkulturelle Theologie studiert und arbeitet als Referent für interkulturelle Öffnung bei der Nordkirche. „Ich unterstütze meine Frau als SOS-Kinderdorfmutter sehr gern und bin dankbar für die Chance, für Kinder da sein zu können, auch als Vorbild“, sagt Pastor Okeke (52).
Eine Familie mit Kindern aus unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturen, das wäre etwas für sie, meint Christina Okeke. „Ich frage mich immer, wie kann ich einem Kind gerecht werden? Dazu gehören auch Themen wie Migration und Rassismus bis hin zum Wissen über die richtige Haarpflege. Wir als Familie ticken gut zusammen, das möchten wir gern weitergeben.“ Im SOS-Kinderdorf Harksheide in Schleswig-Holstein hat sie bereits monatelang mitgearbeitet, auch Kinder mit ausgeprägten Wutanfällen erlebt. „Das kann ich aushalten, da bin ich Profi“, sagt die 53-Jährige.
Die Eltern haben oft psychische Probleme
SOS-Kinderdorfkinder sollen zwar wie in einer echten Familie aufwachsen, doch jedes bringt sein Päckchen aus der Ursprungsfamilie mit. Erst wenn andere unterstützende Maßnahmen nicht mehr ausreichen, wird der Junge oder das Mädchen – auch zusammen mit Geschwistern – in eine SOS-Kinderdorffamilie aufgenommen. Die leiblichen Eltern haben oft psychische Probleme oder eine Suchterkrankung. Damit ist das Kindeswohl gefährdet und die Kinder werden aus der Familie herausgenommen. Kontakt zu Mutter und Vater oder anderen Verwandten besteht in der Regel aber weiterhin.
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Die Jungen und Mädchen haben meist Förderbedarf, nehmen teil an Ergo-, Psycho- oder Pferdetherapie. Eine SOS-Kinderdorffamilie ist genauso individuell wie andere Familien: Der eine Vater bringt ein Klavier mit, der andere ist eher fußballbegeistert. Damit es sich für alle wie in einer Familie „anfühlt“, wird unter anderem auf Altersabstände der Kinder geachtet, sie sind bei der Aufnahme maximal zwölf Jahre alt. Mindestens eine Generationszeit, zehn bis 15 Jahre, sollte eine SOS-Kinderdorffamilie zusammenbleiben – es ist also ein Beruf mit langfristiger Perspektive.
Das Jugendamt muss zustimmen, bevor ein Kind einzieht
Die Kinder haben nicht nur in der Familie, sondern auch außerhalb immer Ansprechpartner, können sich ihnen gegenüber vertraulich äußern – sie bekommen u. a. eine Broschüre, in der ihre Rechte stehen. Professionelle Begleitung stehe immer im Vordergrund, sagt Sozialmanagerin Christina Okeke. Wichtige Entscheidungen würden nur mit allen Beteiligten und Fachkräften zusammen erarbeitet und getroffen. So gibt es bei der Aufnahme eines Kindes in eine SOS-Kinderdorffamilie mehrere Stufen, bis sie zustande kommt. „Zuallererst muss ich ein Kind und seine Familie respektieren und wertschätzen“, sagt Sozialmanagerin Okeke. Nur wenn Kind, Eltern und auch das Jugendamt zustimmen, kann der Junge oder das Mädchen einziehen.
Nun werden die Okekes voraussichtlich bis Ende dieses Jahres „Eltern“ weiterer vier Kinder. Die beiden sind Anfang fünfzig, ihr Sohn ist erwachsen. Ein guter Zeitpunkt, sich noch einmal neu zu orientieren. Und mit der SOS-Kinderdorffamilie wird für Joshua doch noch ein Wunsch in Erfüllung gehen: „Für mich war immer klar, dass ich mir kleinere Geschwister wünsche. Das war jetzt die letzte Möglichkeit“, sagt er schmunzelnd.
Infos zur Arbeit beim SOS-Kinderdorf: www.sos-kinderdorf.de/kinderdorffamiliehamburg