Hamburg. Astrid und Niels Hellweges Tochter Anna wurde 2006 von ihrem Freund erwürgt. Ein Gespräch über Trauer, Glücksmomente und Verzeihen.
Astrid (77) und Niels Hellweges (79) Tochter Anna wäre heute 45 Jahre alt. Vielleicht hätte sie eigene Kinder, wäre eine noch erfolgreichere PR-Managerin und sehr wahrscheinlich wäre sie nach wie vor diese lebhafte, fröhliche Frau, die sie schon vor ihrem gewaltsamen Tod am 16. Oktober 2006 war.
Anna Hellwege wurde mit 28 Jahren von ihrem Freund William in der gemeinsamen Hamburger Wohnung erwürgt. Der damals 23 Jahre alte Brasilianer, den die junge Frau ein Jahr zuvor auf Fuerteventura kennengelernt hatte, nahm sich vier Tage nach seiner Tat in der Untersuchungshaft am Holstenglacis das Leben. Ein Gespräch über Trauerbewältigung, Glücksmomente und das Ringen um Vergebung.
Was war Anna für eine Persönlichkeit?
Niels Hellwege: Anna war ein ganz besonderer Mensch. Wenn sie einen Raum betrat, ging die Sonne auf, so haben ihre Freundinnen sie bezeichnet.
Astrid Hellwege: Sie war sehr selbstbewusst, aber auch sehr fröhlich und offen, konnte auf Menschen zugehen. Sie konnte sich gut durchsetzen, aber auf eine Art und Weise, dass sie damit auch gleichzeitig Freunde gewinnen konnte.
Sie war eine erfolgreiche Managerin, mitten im Leben, mitten im Beruf angekommen, als sie William am letzten Urlaubstag auf Fuerteventura kennengelernt hat. Was war er für ein Mensch, mochten Sie ihn oder hatten Sie vor der Tat schon einen Verdacht, dass es Ihrer Tochter eigentlich nicht guttut?
Astrid Hellwege: Er konnte wunderbar lachen, war ein junger, frischer Mann, und ich konnte mir gut vorstellen, warum sie sich in ihn verliebt hat. Aber es geht einem viel durch den Kopf, wenn man den Hintergrund des jungen Mannes kennt. Wenn ich über die Zukunft der beiden nachdachte, sie erfolgreich und er ein bisschen hilflos ... Durch seine Erziehung hatte er ein stark machohaftes Gehabe an sich, was nicht zusammenpasste. Bei ihm gab es eine Mischung aus Unsicherheit und gleichzeitigem Wunsch, seine Stärke immer wieder darstellen zu wollen. Anna war so verliebt, dass sie das alles mitgemacht hat und es in Ordnung fand. William hatte keine Ausbildung, hat auf Fuerteventura als Anstreicher sein Geld verdient. Er war in Hamburg somit völlig abhängig von meiner Tochter. Das war ein großes Problem für ihn.
Wie und wann haben Sie von dem Tod Ihrer Tochter erfahren?
Astrid Hellwege: Das war sehr unglücklich, weil ich ganz allein war, da mein Mann mit meinem Sohn in der Stadt war. Es kam ein Anruf von Annas Firma. Anna war nicht gekommen und hatte sich auch nicht abgemeldet. Das war nicht ihre Art. Ich bin losgefahren, denn ich hatte einen Schlüssel für die Wohnung. Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl, als ich die Wohnung aufgeschlossen habe. Es war ein herrlicher sonniger Tag, das weiß ich auch noch. Im Treppenhaus stand so eine Holzbank voller Pflanzen, die waren alle umgestoßen und lagen auf dem Boden. Da habe ich schon gedacht, der William ist in höchster Eile geflohen. Ich bin in die Wohnung rein, sehr vorsichtig. Als ich ins Badezimmer kam, lag sie da. Das war schrecklich. Sie lag auf dem Rücken, sah eigentlich unbeschädigt aus, das hat mich auch so irritiert. Und dann habe ich mit ihr gesprochen. So ungefähr: „Warum liegst du hier? Komm mal hoch.“ Das ist so, wenn man das nicht wahrhaben will in dem Moment. Aber sie war ganz kalt, und ich muss wohl geschrien haben. Das habe ich aber selbst gar nicht wahrgenommen. Im gleichen Moment kam ein Mann mit seinem Hund in die Wohnung und fragte: „Frau Hellwege, was ist los?“ „Ich sagte, gucken Sie mal bitte selbst: Soll ich die Polizei rufen?
Wann wurden Sie informiert, Herr Hellwege?
Niels Hellwege: Wir waren bei einer Hausbesichtigung und hatten unsere Telefone im Auto gelassen. Als wir wieder im Auto waren, kam der Anruf, es sei etwas Schreckliches passiert, ich solle sofort zur Annas Wohnung kommen. Das war zehn Minuten von uns entfernt. Ich fuhr dahin, und dann sah ich die Polizei vor der Tür. Wir hatten den Abend davor schon eine Diskussion mit Anna wegen William. Das war ja der Fehler. Was wir uns ewig vorwerfen, ist, dass wir sie haben nach Hause fahren lassen, weil sie uns gesagt hatte, sie bekomme das hin mit William, wir sollten uns nicht darum kümmern, keine Sorgen machen. Und dann ist sie Sonntagabend um 23 Uhr von uns weggefahren. Gegen 4 Uhr am Montagmorgen ist sie dann getötet worden. Insofern wussten wir, da die Polizei da war, dass irgendetwas passiert sein musste.
Astrid Hellwege: Man muss dazu sagen, dass es eine Gewohnheit war, dass wir uns jeden Sonntagabend trafen, auch mit William. Wir sind ins Blockhaus gegangen oder haben was zusammen gemacht. Und er war an dem Tag nicht dabei, da hatten wir uns schon gewundert. Sie hat uns von einem Streit erzählt und gesagt, sie müsse sich demnächst von ihm trennen. Ich glaube, es ging auch bei dieser Auseinandersetzung mit ihm darum. Deswegen haben wir zu ihr gesagt: „Wenn ihr jetzt im Streit auseinandergegangen seid, dann bleib doch lieber hier heute Nacht und fahre morgen früh nach Hause“. Doch genau das ist eben nicht passiert und ihr zum Verhängnis geworden. Es war eine Tat im Affekt, es war kein geplanter Mord.
Der junge Mann ist relativ schnell gefasst worden und dann in Untersuchungshaft gekommen. Haben Sie ihn da noch mal gesehen?
Astrid Hellwege: Nein. Das ging ja alles sehr schnell. In der Nacht von Freitag auf Sonnabend hat er sich das Leben genommen. Für uns war das alles unwirklich, das konnte man gar nicht begreifen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe und eigentlich begreifen musste. Aber das schiebt man dann auch sehr weg und versucht, es erst mal, nicht wahr sein zu lassen.
Sie haben zuvor schon ein Kind verloren, den Zwillingsbruder ihres Sohnes Jan Henrik. Er starb aufgrund von Geburtsschäden, als er sechs Monate alt war. Haben Sie nach der Tat jemals gedacht: Den Tod von Anna halte ich nicht noch aus?
Astrid Hellwege: Ja, am Anfang sehr stark. Ich habe gedacht, es kann eigentlich nicht sein, dass man zwei Kinder verliert. Warum ich? Was geht hier vor? Also das war für mich schon eine sehr harte Strafe, die ich als solche empfunden habe.
Strafe durch wen? Durch die Umstände oder durch das Leben?
Astrid Hellweg: Das Leben ist ja nie so, wie man es sich ausmalt. Ich wollte eine große Familie und viele Kinder haben – und hätte auch drei gehabt. Normalerweise. Aber die Dinge laufen anders. Ich denke zurück an diese behütete Kindheit meiner Kinder. Man holt sie aus der Disco ab, überlegt, wo etwas passieren könnte. Aber dann passieren solche Dinge, auf die ich keinen Einfluss hatte, und muss dann damit fertigwerden. Ich muss damit leben.
Wer hat Ihnen denn nach Ihrem Verlust zur Seite gestanden?
Niels Hellwege: Das Besondere an diesem furchtbaren Ereignis war, dass wir in ein Netz gefallen sind. 24 Stunden nach dem Tod der Tochter klingelte es hier an der Tür, und davor standen ungefähr 15 junge Leute – Annas Freunde. Sie kamen hier rein und fragten uns: „Wie sollen wir weiterleben?“ Sodass wir diese dunklen Gedanken, dass wir den Tod Annas nicht aushalten, auf einmal weg waren. Denn wir mussten uns um diese jungen Leute kümmern. Und ganz besonders meine Frau, die hat dadurch nun fünf Ersatztöchter, die inzwischen alle verheiratet sind und Kinder bekommen haben in den vergangenen 18 Jahren. Die haben ein so schönes Verhältnis, sind sehr oft zusammen und haben uns von Anfang an geholfen, einen Freundeskreis zu bilden. Jedes Mal, wenn einer schwächelte, kamen die anderen und haben geholfen. Mir kam die Idee mit der Anna Hellwege Stiftung, das Engagement dort hat mir als Ablenkungsmanöver sehr geholfen.
Sie haben auch Kontakt zum Weißen Ring aufgenommen. Wie wurden Sie dort begleitet?
Niels Hellwege: Als Jurist weiß ich, dass der Weiße Ring von der Polizei eingeschaltet wird, wenn irgendwo etwas passiert. Zwei Tage später stand dann eine große, schlanke Frau vor der Tür und klingelte, nachdem wir sonst nur Besuch von Presse erhalten hatten. Wir mochten also gar nicht mehr an die Tür gehen, aber dann stand Kristina Erichsen-Kruse da. Mit ihr sind wir seither eng befreundet. Sie hat uns sehr geholfen, gemeinsam haben wir den Gottesdienst unter dem Motto „Den Opfern eine Stimme geben“ ins Leben gerufen, der jedes Jahr am 22. März stattfindet.
Was passiert bei diesem Gottesdienst in der Hauptkirche St. Jacobi?
Astrid Hellwege: Es sind bei dieser Veranstaltung noch andere Paare dabei, die ähnliche Schicksale erlitten haben wie wir. Wir gestalten gemeinsam diese Gottesdienste, und ein paar von uns stellen Kerzen her. Wir haben jetzt wieder 200 Kerzen mit einem roten Herzen darauf gebastelt. Die soll jeder mitnehmen, um ein Andenken zu haben. Es ist ein Ritual, das sich wiederholt, und für uns eine wichtige Sache. Wir haben hier im Haus auch eine wunderbare Ecke für Anna gestaltet. Ich habe ein Bild gemalt von Anna, wie sie lacht, und das finde ich sehr schön.
Sie hatten auch einen Geistlichen an Ihrer Seite. Die Trauerfeier wurde von dem inzwischen verstorbenen Stormarner Propst Helmer-Christoph Lehmann, der Anna gut kannte, geleitet. Gab er Ihnen Trost?
Astrid Hellwege: Er war fast wie ein Familienmitglied, weil er alle unsere Kinder getauft hat, auch den verstorbenen Bruder unseres Sohnes. Er hat also die schönen und die guten Dinge mit uns intensiv erlebt, und deswegen war er für uns wie ein Freund und konnte uns helfen und trösten.
Es ist schön zu sehen, dass Sie miteinander lachen können, dass Sie aufeinander Rücksicht nehmen. Das ist nicht selbstverständlich nach so einem Verlust. Wie lange hat es gedauert, bis Sie auch als Familie und Ehepaar wieder einen normalen Alltag hatten? Was raten Sie anderen Menschen, die Ähnliches erlebt haben?
Astrid Hellwege: Ich glaube, es waren die Mädchen. Ich musste für Annas Freundinnen da sein. Eine Aufgabe zu haben ist ganz wichtig. Sich um andere zu kümmern ist eine sehr gute Therapie, die vom eigenen Schmerz ablenkt. Ich bin jemand, der immer die Habenseite sieht. Ich schaue darauf, was ich alles noch habe. Ich habe noch einen Sohn, ich habe zwei Enkel, ich habe einen Mann und ein schönes Haus. Es ist wichtig, sich das Positive ganz intensiv bewusst zu machen, um das Negative zu akzeptieren.
Niels Hellwege: Das sehe ich genauso. Wir haben gelernt, dass jeder mit Trauer unterschiedlich umgeht, das muss man akzeptieren. Ich bin ein Gartenfreak geworden, was ich in meinem Leben überhaupt nie war. Auf dem Friedhof, wo meine Anna liegt, bin ich jede Woche und mache meinen Gartendienst. Meine Frau gar nicht, sie kann nicht zum Friedhof.
Astrid Hellwege: Ich kann zum Friedhof, aber es ist anders bei mir. Ich sehe Anna überall, sie ist mir nahe. Ich muss dafür nicht zum Friedhof gehen.
Niels Hellwege: Aber zum Thema Ehepaar: Wenn man zu zweit ist und an einem Strang zieht, ist es sicher besser, als wenn man allein übrig bleibt mit dem Schmerz.
Manche Menschen, und vor allem ja auch Christen, sagen, dass Vergebung die einzige Möglichkeit ist, um gut weiterzuleben. Haben Sie William seine Tat vergeben?
Astrid Hellwege: Schwierig, aber ich denke, wenn man es schafft, ist man ein zufriedener Mensch und hört auf zu hadern, und das tun leider die meisten.
Niels Hellwege: Meine Frau hat zu mir schon gesagt: „Ich habe ihm vergeben.“ Als wir die Nachricht bekamen über das Telefon, dass William sich im Gefängnis erhängt hat, hat meine Frau bittere Tränen vergossen, ob seines Todes, bei dem mir ein Stein vom Herzen fiel, weil ich als Jurist den Prozess nicht hätte ertragen können. Ich kann das nicht. Ich kann ihn nur vergeben wegen seiner Herkunft. Ich glaube, dass in Brasilien das Leben nicht hochgeachtet wird, Leute häufiger ermordet werden. Er hat auch sein eigenes Leben weggeworfen. Also für mich ist es nach wie vor unfassbar. Auf den Begriff haben wir uns geeinigt.
Astrid Hellwege: Ich habe damals geweint um zwei junge, gesunde Menschen, die plötzlich einfach nicht mehr da waren. Ich habe genau solche Schwierigkeiten damit, das zu verzeihen oder zu akzeptieren. Vergeben ist eine Sache, die man wirklich immer wieder hinterfragen und üben muss. Doch dann muss man zu einem Punkt kommen und sagen: Ja, die Dinge sind so, wir können sie nicht mehr ändern. Es ist jetzt gut, sonst kann ich nicht weitermachen. Ich möchte noch für meinen Mann da sein, für meine Enkel und für meinen Sohn, und das ist meine Motivation. Mein Spruch ist: Das Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi. Man kann es nicht rückgängig machen.
Es gab einen Abschiedsbrief von William, in dem er Sie um Verzeihung gebeten hat. Er schrieb, es tue ihm aus tiefster Seele leid. „Ich habe die Frau meines Lebens getötet. Ich gehe in ein anderes Leben, um mit Anna zu sein.“ Er hat Ihnen zudem ein Fotoalbum von ihm und Anna aus glücklichen gemeinsamen Tagen hinterlassen. Manche hätten dieses Buch vielleicht weggeschmissen. Sie bezeichnen das als ihre Bibel, Frau Hellwege. Warum?
Astrid Hellwege: Weil alle diese Bilder ein verliebtes Paar zeigen. Damals war alles noch schön, gut und friedlich, und das war und ist für mich ein Trost, dass ich sehen kann, wie glücklich meine Tochter auch war.
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Niels Hellwege: Die ersten zwei, drei Jahre habe ich das Album überhaupt nicht ansehen wollen, im Zusammenhang mit einem Interview holte meine Frau es aus dem Schrank, und seitdem kann ich die Bilder auch wieder betrachten. Anna war so schnelllebig, was sie in ihren 29 Jahren erlebt hat, erleben andere in 50 Jahren nicht.
Herr Hellwege, Sie haben 2006 die Anna Hellwege Stiftung gegründet …
Niels Hellwege: Ich hatte überlegt, wie ich Anna auf Ewigkeit erhalten kann? Und das ist durch diese Stiftung möglich. Anfangs ging es gegen Gewalt gegen Frauen, aber da sind schon sehr viele am Markt. Wir fördern nun Bildungs- und Sportprojekte in Hamburg und die Selbstständigkeit von Frauen in Afrika.
Was bereitet Ihnen heute Freude im Leben?
Astrid Hellwege: Unser Sohn macht uns wirklich ganz viel Freude. Er hat sehr viele Jahre Kunst studiert und ist nebenbei schon immer für die Hamburger Tafel gefahren. Nach Annas Tod hat er das Studium abgebrochen, ist wieder zu uns nach Hause gezogen und hat sich immer mehr mit der Tafel beschäftigt, die er jetzt leitet. Und was mich so fröhlich macht, ist, dass er so gut mit Menschen umgehen kann. Er ist locker fröhlich. Er geht ganz in seinem Job auf. Vorher stand er oft in Annas Schatten. Ich weiß nicht, ob er diesen Weg so erfolgreich gegangen wäre, wenn seine Schwester jetzt noch da gewesen wäre. Also, das sind Entwicklungen, die man gar nicht ahnen kann. Und das Malen macht mir Freude. Wir haben trotz allem nun ein gutes Leben.
Gottesdienst am 22. März des Weissen Rings in St. Jacobi mit Familie Hellwege
Jedes Jahr macht der Weisse Ring mit dem „Tag der Kriminalitätsopfer“ auf die persönliche, rechtliche und wirtschaftliche Situation der Menschen aufmerksam, die von Kriminalität und Gewalt betroffen sind und daher die Hilfe und Solidarität der Gesellschaft dringend benötigen.
Anlässlich dieses Aktionstages findet in Hamburg am 22. März um 18 Uhr in der Hauptkirche St. Jacobi, Steinstraße/Jakobikirchhof, ein Gottesdienst unter der Leitung von Propst Dr. Martin Vetter statt. Er wird unter dem Motto gefeiert: „Den Opfern eine Stimme geben: Jeder Mensch ist wichtig.“ Auch die Familie Hellwege wird vor Ort sein.