Hamburg. Wenn keiner das Obst mehr haben will, sind Mitarbeiter eines Inklusionsprojekts zur Stelle. Das Unternehmen sucht neue Unterstützer.
Es ist ein regnerischer Herbsttag, als sich drei Männer zum Abendblatt-Fotoshooting auf einer Wilhelmsburger Obstwiese treffen. Die mittelgroßen Birnenbäume, zwischen denen sie sich versammeln, trotzen mit ihren knorrigen Zweigen den stürmischen Böen. Dass nur noch wenige Früchte der alten Sorte „Bürgermeisterbirne“ am Baum hängen, liegt nicht am Wind, sondern ist ihr Werk: Jan Schierhorn, 54, Samuel Wolter, 39, und Simon Riedel, 34, gehören zur gemeinnützigen GmbH „Das Geld hängt an den Bäumen“ mit Sitz in Wilhelmsburg. Die Bäume wurden zuvor von Mitarbeitern abgeerntet, und aus den Früchten entsteht nun leckerer Saft in bester Qualität. Einer der Kunden: Das Hamburger Rathaus.
Obstsaft kann bei einem Pizza-Lieferdienst bestellt werden
Wer dort an einer Veranstaltung teilnimmt, bekommt Apfelschorle-Flaschen serviert, auf deren Etiketten ein fröhlich lächelnder Samuel Wolter zu sehen ist. Folglich heißt das Produkt „Apfelschorle Samuel“. Sie schmeckt natürlich, lecker und fruchtig, und Jan Schierhorn, ehrenamtlicher Geschäftsführer dieser GmbH, berichtet, dass Kinder und Jugendliche andere Getränke wie Cola stehen ließen, nur um diese Natursäfte zu genießen. Auf mehreren Hunderttausend Flaschen und beim Kooperationspartner Call a Pizza, einem Lieferdienst, ist das Flaschen-Konterfei von Samuel inzwischen zu sehen. Ein echter Star! Auch Simon Riedel, ein Autist, und Gina zählen zu den Werbeträgern.
„Das Geld hängt an den Bäumen“ hat 15 Mitarbeiter
„Das Geld hängt an den Bäumen“ gibt es seit 15 Jahren und ist eines der wenigen sozialökologischen Projekte in Deutschland. Fünf Frauen und zehn Männer sind dafür tätig. Es sind Menschen, die auf dem klassischen Arbeitsmarkt meist keinen Platz finden. Mitarbeiter mit Asperger-Syndrom, einer gravierenden Kontakt- und Kommunikationsstörung, mit Lernschwierigkeiten, traumatischen Lebenserfahrungen, Depressionen. Sogar ein Blinder mit nur noch einem Prozent Sehvermögen arbeitet mit. Zum Beispiel beim Obstpflücken. Jetzt will der kleine Betrieb, zu dessen Kunden auch Firmen und Privatleute zählen, neue Wege gehen. Geschäftsführer Schierhorn, ein erfolgreicher Marketing-Experte und Product-Promotor, möchte weitere Unternehmen für die Unterstützung begeistern und deshalb verstärkt Social Days vor Ort anbieten.
Führungskräfte von Beiersdorf helfen bei der Apfelernte
Die Idee: Führungskräfte verbringen einen Tag mit dem Team von „Das Geld hängt an den Bäumen“. Dabei erklärt ihnen zum Beispiel ein Autist, wie die anstehende Arbeit zu erledigen ist. „Das schafft wirklich einen Perspektivwechsel“, sagt Schierhorn. Erste, vielversprechende Erfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen von Beiersdorf und der Barclays Bank liegen bereits vor. „Der Social Day trägt auch dazu bei, das Miteinander zwischen den Managerinnen und Managern zu fördern.“
Sozialer Saftladen: Was die einzelnen Flaschen kosten
Jan Schierhorn, Vater von drei Kindern, ist der Initiator, Gründer und ehrenamtliche Geschäftsführer des Wilhelmsburger Projekts. Er hat gerade auf einem Sofa im Büro der GmbH Platz genommen, neben ihm sitzen Samuel und Simon. Auf dem Couchtisch stehen dekorative Kisten von Direktsäften, Schorlen und Honiggläsern mit handverklebten Etiketten. Das Sortiment umfasst insgesamt 15 Produkte, darunter Apfelsaft (0,7 l für 2,73 Euro pro Flasche), Apfel-Ingwer-Schorle „Gina“ (0,33 l für 1,51 Euro) und Apfel-Birnen-Saft (0,2 l für 1,78 Euro).
Das Geld hängt an den Bäumen: Wie alles begann
Mit Begeisterung erzählt Schierhorn, wie alles entstanden ist. Im Jahr 2007 saß er auf seinem Grundstück in Groß-Borstel unter einem prächtig tragenden Apfelbaum. „Einerseits wusste ich nicht, was ich mit den vielen Äpfeln anfangen sollte. Und andererseits befand ich damals auf Sinnsuche.“ Er recherchierte und stellte in seinem privaten Umfeld fest, wie viele Menschen ebenfalls Obstbäume hatten und nicht wussten, was sie mit den vielen Früchten machen sollten. Dazu kamen die zahllosen Bäume auf städtischen Flächen, deren Früchte buchstäblich vergammelten, weil niemand sie haben wollte.
Körber-Stiftung finanzierte das Projekt mit 10.000 Euro
„Diese Äpfel zu mosten und zu vertreiben und das Ganze als Inklusionsprojekt mit Menschen mit Handicaps zu gestalten, schien mit als wirklich sinnvoller Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel.“ Nachdem er das Projekt 2008 bei der Körber-Stiftung vorgestellt hatte, erhielt Schierhorn eine Anschubhilfe von 10.000 Euro, die er um die gleiche Summe aufstockte. Danach ginges los. „Dass sich ‚Das Geld hängt an den Bäumen‘ dank zahlreicher Unterstützer und Spender bis in die heutige Dimension entwickelt hat, erfüllt mich mit Stolz und Freude.“
100 Tonnen Obst von norddeutschen Wiesen
Das kleine Unternehmen ruht inzwischen auf drei Säulen: Zum einen bietet es Firmen und Privatkunden Garten- und Landschaftspflege an. Da werden Rasenflächen gemäht, Bäume verschnitten, Laub geharkt und Hecken gestutzt. Zum anderen wird Obst, das sonst keiner haben will, gepflückt, in die Auricher Süßmosterei transportiert, dort verarbeitet und von Hamburg aus weiter vermarktet. Durchschnittlich 100 Tonnen Obst, meist Äpfel und Birnen, werden im Jahr geerntet und zu Saft verarbeitet. Die Wiesen gehören Privatleuten, aber auch dem Amt für Naturschutz und der Stadt Hamburg. Sie stehen in Wilhelmsburg genauso wie in Himmelpforten (Streuobstwiese) und auf Golfplätzen wie im schleswig-holsteinischen Dänischenhagen.
Inklusionsprojekt: Unterstützung vom Apfel-Papst
Die Früchte, aus denen naturtrüber Saft entsteht, sind meist alte, regionale Sorten. Finkenwerder Herbstprinz. Ruhm von Kirchwerder. Bürgermeisterbirne. Der norddeutsche „Apfelpapst“ Eckart Brandt setzt sich seit Jahrzehnten mit seinem Boomgarden für deren Erhalt ein und nahm mehrfach an Baumpflanz-Aktionen der gemeinnützigen GmbH teil. Zum Beispiel auf dem Gelände von Fördern & Wohnen in Sachsenwaldau. Dort arbeitet das Projekt mit suchtgeschädigten Menschen zusammen und baut auf einer Fläche von einem Hektar sogar eigenen Rhababer an (Holsteiner Blut).
Inklusion schafft Arbeitsplätze für viele Menschen
Samuel Wolter und Simon Riedel berichten mit Fröhlichkeit von ihrer Arbeit. Beide sind Experten für Lagerarbeiten und Lieferungen. Sie können bei Bedarf per Hand Etiketten auf Flaschen und Gläser kleben. Wie alle anderen Mitarbeiter werden mindestens nach Mindestlohn bezahlen und leben in eigenen Wohnungen, verteilt über das Stadtgebiet. „Wichtig ist uns die Selbstermächtigung unserer Mitarbeiter“, erläutert Jan Schierhorn. „Zu unserem Team gehören auch Menschen mit chronischen Krankheiten, ehemalige Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Menschen, die stigmatisiert und diskriminiert werden. Jeder hat seine Stärken, seine Schwächen. Eines haben wir aber alle gemeinsam: Wir sind ein bisschen verrückt und dabei glücklich.“ Und in der Not rückt der soziale Saftladen zusammen.
Das Geld hängt an den Bäumen: Wege aus dem Defizit
Damit das Projekt weiter erfolgreich für die Inklusion wirken kann, müssen nun neue Unterstützer, Kunden und Interessenten, insbesondere für den Social Day, gefunden werden. Krankheitsfälle, weniger Zuwendungen durch die Behörde, die Corona-Pandemie, gestiegene Energie-, Rohstoff- und Logistikkosten setzen dem öko-sozialen Projekt zu. „Wir haben im Moment eine Deckungslücke von 110.000 Euro“, sagt Jan Schierhorn, wobei die Firma dennoch auf eigenen Füßen stehen könne. Aber er hofft auf die Hamburger und zitiert sinngemäß eine Passage aus der Hamburgischen Verfassung. „Der Stärkere hilft den Schwächeren.“ Das fügt er hinzu, sollte auch uns Mut machen. „Damit wir auch in Zukunft 100 Prozent sozial, 100 Prozent Natur und 100 Prozent lecker sind.“
Anfragen für Warenbestellung: bestellung@dasgeldhaengtandenbaeumen.de
Spendenkonto: Spendenkonto: Hamburger Sparkasse
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