Hamburg. Gemeinsam mit zwei Stiftungen engagiert sich die Hauptkirche für Menschen aus Syrien, der Ukraine und anderen Krisengebieten.
Clodia Mirza hat das Zimmer geliebt. Es war ihr Zuhause in der nordsyrischen Stadt al-Hasaka. Zwar teilte sich die damals 18-Jährige den Raum mit ihrer älteren Schwester. Aber das Haus ihres Großvaters gab Geborgenheit und Sicherheit. Wenn sie aus dem Fenster schaute, sah sie quirrliges Leben, Handwerker und Händler bei der Arbeit; der Straßenlärm gehörte dazu wie der Staub der Wüste.
Wenn Clodia Mirza heute aus dem ihrem Fenster schaut, blickt sie auf Blätter, die in diesen Novembertagen von den Bäumen fallen und riecht das Laub, das flächendeckend nass auf der Erde liegt. Und sie freut sich, wenn die Mädchen und Jungen morgens lärmend zur benachbarten Schule gehen. „Ansonsten ist es ruhig hier“, sagt die inzwischen 26-Jährige, die zusammen mit ihrer Mutter in Neugraben wohnt.
Integration Hamburg: Von Syrien nach Hamburg – eine traumatische Flucht
Zwei Fenster, zwei Leben. Das eine bis Ende 2015 in Syrien, als die Schergen des Islamischen Staates nach dem Leben von Christinnen und Christen trachteten. Das andere seit Anfang 2016 in Hamburg. Dazwischen liegen die Flucht in die Türkei und Griechenland mit traumatischen Erfahrungen. Und der lange Weg nach Deutschland bis in die Gesellschaft dieses Landes mit der Anerkennung als Bürgerkriegsflüchtling und dem entsprechenden Aufenthaltstitel.
Michel: Seit 2017 gibt es das Projekt „Heimat geben“
All das hätte die evangelische Christin aus Nordsyrien ohne ein Hamburger Projekt nicht so gut geschafft. Es heißt „Heimat geben“ und hat seinen Sitz an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Die Kirchengemeinde hilft seit 2017 geflüchteten Christen, in ihrer neuen Heimatstadt Fuß zu fassen und kooperiert dabei mit der Albertinen-Stiftung und der Hubertus Wald Stiftung. Sie hat auch Clodia geholfen.
Die Gewalt gegen Christen hatte in Syrien ihren Höhepunkt erreicht, als der sogenannte „Islamische Staat in Irak und Syrien“ (wenig später nur noch als „Islamischer Staat“ bezeichnet) auf den Plan trat und im Juni 2014 ein Kalifat ausrief. Die Kämpfer zwangen die Bevölkerung in den von ihnen besetzten Gebieten zur Einhaltung islamischer Gesetze und richteten „Ungläubige“ erbarmungslos hin.
Das sagt das internationale Hilfswerk Open Doors
„Die Angst vor einem Syrien vollständig unter islamistischer Herrschaft griff um sich und führte dazu, dass viele Christen in dem repressiven Assad-Regime, in dem sie zwar unterdrückt, aber nicht mit Vernichtung bedroht wurden, noch das kleinere Übel sahen“, berichtet das internationale Hilfswerk Open Doors. Zehnttausende Syrer suchten die Flucht.
Als die Clodia Mirza nach Hamburg kam, wurde ihre Familie, wie das so üblich ist, in den Container-Unterkünften nach Geschlechtern getrennt. Mit ihrer inzwischen 63 Jahre alten Mutter und der 30-jährigen Schwester bezog sie eine Unterkunft für Frauen, während ihr Bruder im Container für Männer wohnte. Konflikte untereinander blieben nicht aus, es waren zu viele Menschen, zu unterschiedliche Kulturen und Sprachen. Und die Nerven lagen blank.
Als eine junge Frau aus Syrien erstmals den Michel sah
Clodia, die vor ihrer Flucht aus Syrien kurz vor dem Abitur stand, wollte die Situation ändern - und suchte Hilfe. Als Christin hatte sie von der Hamburger Hauptkirche gehört, von den Hanseaten liebevoll „Michel“ geannt. „Eines Tages stand ich vor dem großen Gebäude mit dem Erzengel Michael und dachte: Das ist bestimmt ein Museum“, erinnert sie sich. Mit Herzklopfen trat die junge Frau aus al-Hasaka, die Arabisch und Englisch sprach, in das protestantische, barocke Gotteshaus, sah den hellen lichten Kirchenraum und spürte, wie klein sie sich fühlte.
Hamburger Michel: Bei „Heimat geben“ arbeiten Ehrenamtliche mit
Schließlich traf sie auf zwei Frauen, die sie mit Herzlichkeit und offenen Armen begrüßten. Es waren Pastorin Atze und Susanne Graeper, die Leiterin des gerade gegründeten Projekts „Heimat geben“. An jenem Tag des Jahres 2016 beginnt für die Asylbewerberin Cloda Mirza eine Geschichte, auf der Gottes Segen liegt. Daran jedenfalls lässt die Christin keinen Zweifel.
Sie sitzt für das Abendblatt-Gespräch gemeinsam mit Suanne Graeper in der Bibliothek der Hauptkirche, einem funktional eingerichteten Besprechungsraum an der Englischen Planke, in dem auf dem Tisch die ersten süßen Pfefferkuchen-Herzen dargeboten werden. „Ja“, sagt die 26-Jährige in sehr gutem Deutsch, „das hat Gott alles so geplant. Gott hat mir und meiner Familie gute Menschen wie Susanne geschickt.“
Michel-Projekt hilft bei Behördengängen und Schulsuche
Das Projekt „Heimat geben“, in dem sich zahlreiche Ehrenamtliche des Michel unter Leitung der früheren Vorstandsassistentin Susanne Graeper engagieren, bietet Geflüchteten vielfältige Unterstützung an. Dabei geht es um Wohnungssuche und Behördengänge, die Vermittlung von Praktikumsstellen und die Wahl der passenden Kita oder Schule. Wer hier mitmacht, lernt auch das Innenleben von Jobcentern kennen und weiß, wie man Bafög-Anträge stellt.
Flüchtlinge aus Syrien: Ein Jobcenter-Mitarbeiter ist skeptisch
Susanne Graeper berichtet von einem Jobcenter-Mitarbeiter aus Bergedorf, der damals der syrischen Frau wenig Mut machten wollte. „Sie wird in Deutschland nicht Fuß fassen“, behauptete er.
Heimat geben: Hilfe für bislang 50 Flüchtlinge
Gut 50 Flüchtlingen aus Syrien, dem Iran, Irak, Afghanistan und der Ukraine konnte das Projekt „Heimat geben“ seit seiner Gründung helfen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie sind Christen sind. Um sich ein Bild zu verschaffen, wird bei den ersten Gesprächen häufig Hauptpastor Alexander Röder hinzgezogen. Das Altersspektrum reicht vom Kleinkind bis zur Seniorin. Die Zufluchtsuchenden werden selbstverständlich in die Gemeinde eingebunden, unterstützen bei Gottesdiensten und Gemeindefesten und engagieren sich vor allem selbst im Projekt „Heimat geben“ - „als Hilfe zur Selbsthilfe“, fügt Susanne Graeper hinzu, die seit 2020 auch das Besucher-Zentrum am Michel leitet.
So sind die Hamburger: Freundlich und hilfsbereit
Danach konnte die Neuhamburgerin als Bundesfreiwillige (Bufdi) arbeiten und neben ihrem regulären Deutschkurs ihre Kenntnisse der deutschen Sprache stetig verbessern. Jetzt kann sie sogar solche Worte wie „Eichhörnchen“ und „Streichhölzer“ fehlerfrei und mit sichtlicher Freude aussprechen. Dass „Moin“ und „Mahlzeit“ tageszeitenunabhängig bei den Norddeutschen im Gebrauch sind, erstaunt sie längst nicht mehr. Ohnehin schätzt Clodia an den Hamburgern deren Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
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Integration Hamburg: Die junge Frau aus Syrien will in der Michel-Kita arbeiten
Und sie ist froh und dankbar darüber, dass sie in Hamburg wirklich angekommen ist. Gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester wohnt sie in Neugraben, und nicht weit von ihrer Mietwohnung hat auch der 40-jährige Bruder eine Bleibe gefunden. Seit drei Semestern studiert Clodia an der Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik. Sie will Erzieherin werden und „am liebsten danach in der Michel-Kita arbeiten“, fügt sie hinzu. Susanne Graeper nickt zustimmend. Das wäre doch ein guter Plan.