Hamburg. Seit 40 Jahren gibt es einen besonderen Ort in Hamburg – den Treffpunkt für „Dolle Deerns“. Eine feministische Erfolgsstory.
Was „Frieda ungefunzt“ bedeutet, kann neuerdings jeder nachlesen. Andere Gesprächsthemen bleiben vertraulich. Ehrensache. Bei Mädchen ist das nicht anders als bei Jungs. Mit einem gewichtigen Unterschied: Wenn’s um Lautstärke und Ellenbogen geht, geben heranwachsende Männer oft den Ton an. Im Großen wie im Kleinen. Umso wichtiger sind geschützte Rückzugsräume, in denen junge Frauen unter sich sein können. So wie im Mädchentreff in Kirchdorf-Süd. In der Siedlung nahe der Autobahn 1, in der viele Großfamilien unterhalb des Existenzminimums leben, hat eine Oase der Geborgenheit besondere Bedeutung. Der Name des Projekts ist Programm: „Dolle Deerns“. Aus dem Plattdeutschen übersetzt heißt das: „Tolle Mädchen“.
Im Süden von Wilhelmsburg: „Feministische Mädchenarbeit“
Name und Inhalt des gemeinnützigen Vereins machen neugierig. Auf also in ein Quartier im Süden von Wilhelmsburg, das die meisten nur als Autobahnausfahrt kennen. Hinein in einen Bereich, in dem „feministische Mädchenarbeit“, so die offizielle Formulierung, großgeschrieben wird. Im Erdgeschoss eines Saga-Hochhauses, durch Parkplätze und einen Grünstreifen vom Erlerring getrennt, finden Mädchen und junge Frauen zwischen zehn und 22 Jahren ein zweites Zuhause – wochentags, vorübergehend, mit Unterstützung von Schule und Eltern. Pro Jahr werden 8000 bis 10.000 Besucherinnen gezählt.
Abitur mit einer Note von 1,2: Architektur studieren
So wie Agic Nadza, bis vor Kurzem zumindest. Die 18-jährige Abiturientin (Notenschnitt 1,2) aus Harburg wirkt parallel zum anstehenden Architekturstudium in Hamburg als Honorarkraft bei den „Dollen Deerns“. Schließlich ist sie selbst eine davon. In jeder Beziehung. Schwerpunkte ihres Einsatzes in den 175 Quadratmeter umfassenden Räumen des Mädchentreffs sind Hausaufgabenbetreuung und Einsatz in der Kreativwerkstatt. Was ein herrlich unkompliziertes Hummelmädchen namens „Frieda ungefunzt“ damit zu tun hat, wird Agic zum Ausklang dieses spannenden Termins berichten – und zeigen.
„Dolle Deerns“: Ein Rundgang bis zum „Chillraum“
Erst einmal machen wir uns auf den Weg durch die Zimmer. Nihada Moric, diplomierte Sozialpädagogin und Leiterin des Mädchentreffs, und ihre Mitstreiterin Keziban Ünsal, eine Erzieherin, führen durch die Räumlichkeiten. Diesen beiden Festangestellten stehen zwölf Honorarkräfte zur Seite, allesamt weiblich.
Wahrscheinlich wurde vor diesem Lokaltermin aufgeräumt, doch eines kann nicht geplant werden: gute Stimmung. Es darf gelacht werden. In einem Bereich kann getanzt oder Sport betrieben werden, in einem anderen stehen Arbeitsplätze mit Computern zur Verfügung. Der „Chillraum“ macht seinem Namen alle Ehre: In diesem urigen, gemütlichen Refugium mit Coach sitzt ein Besucherinnenquartett lachend beisammen. Die Gespräche sind für erwachsene Ohren tabu. In der Kreativecke wird gebastelt. Und in der Wohnküche sind junge Frauen dabei, Waffeln zu backen. Zugaben: Vanilleeis und frische Früchte.
Was eine 13-Jährige über den Rückzugsort sagt
Warum sind geschützte Räumlichkeiten von so großem Wert für die Mädchen? „Dieser Rückzugsort ist megawichtig für mich“, sagt die 13-jährige Nour, „weil ich mich hier fallen lassen kann und keinen Erwartungsdruck verspüre.“ Die gleichaltrige Rauda nennt neben Hausaufgabenbetreuung unter ihresgleichen, Zusammenhalt und Freundschaft einen großen Freiraum als Pluspunkte der „Dollen Deerns“. Sie benötige weder Ellenbogen noch Show und dürfe „so sein, wie ich bin“. Ilayda, gleichfalls 13 Jahre alt, spricht von sozialem Respekt, von Geborgenheit, von Motivation und Sicherheit. „Ich traue mich, nach Hilfe zu fragen.“
Wobei wir bei den Erwachsenen angelangt sind. In großer Runde nehmen wir im Büro von Nihada Moric platz. Klein und zweckmäßig. Es gibt Mineralwasser, Waffeln, Informationen und einen kurzen Rückblick. „,Dolle Deerns‘ ist ein feministischer Verein, der sich für die Rechte von Mädchen und Frauen einsetzt“, sagt Wiebke Kahl aus der Geschäftsstelle im Schanzenviertel. Die „Dollen Deerns“ sind siebenmal in Hamburg präsent, beispielsweise in Harburg, Lohbrügge, Neu-Allermöhe. Der Standort Kirchdorf-Süd verbucht den stärksten Zulauf. Etwa 30 bis 50 Besucherinnen kommen täglich. Geöffnet ist von 14 bis 18 oder 20 Uhr. Auf dem gedruckten „Mädchen-Programm“ stehen neben Hausaufgaben und Lernunterstützung abendliche Kurse in Deutsch, Englisch und Mathe, Backen, Kochen, Hip-Hop, Basteln, Aerobic. In den Ferien geht es zum Tretbootfahren oder in den Heidepark.
„Dolle Deerns“: Das Jubiläum wurde im Hamburger Rathaus gefeiert
Anpackende Unterstützung für Mädchen und junge Frauen hat Tradition. Mitte Juli dieses Jahres wurde das 40. Jubiläum des Vereins mit einem Empfang im Hamburger Rathaus gewürdigt. Anschließend gab es eine Rollschuhdisco in Planten un Blomen. Erinnerungen wurden wach an das Jahr 1982. Während der Hamburger Frauenwoche keimte die Idee. Grundgedanke: „Die Mädchenarbeit muss gestärkt und besser koordiniert werden.“
Gesagt, getan. 1983 wurde der Verein zur Förderung feministischer Mädchenarbeit „Dolle Deerns“ gegründet. Heimat: Schanzenviertel. Bis auf zwei Frauen im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gab es ausschließlich ehrenamtliche Aktivistinnen. Leitsatz, damals wie heute: „Wer Mädchen stärkt, verändert die Welt“. 1986 ging der erste Mädchentreff in Kirchdorf-Süd an den Start. Schwerpunkte sind nach wie vor das Tabuthema sexualisierte Gewalt, Berufsorientierung, praktische Hilfe bei Alltagsproblemen. Fast alle Mädchen im Treff haben einen Migrationshintergrund.
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Ein derart intensiver Einsatz kostet Geld. Selbstverständlich. 205.000 Euro des Jahresetats in Kirchdorf-Süd zahlt das Bezirksamt Mitte. Zusätzlich werden 50.000 Euro für besondere Initiativen benötigt. Immer wieder ist es ein Kraftakt. Stiftungen, Spenden und Unterstützer halten den Verein auf hoher Betriebstemperatur. Gefragt sind Fantasie, Durchhaltewillen, Herzblut. Und Mut. Der Verein „Hamburger Abendblatt hilft“ sowie „Kinder helfen Kindern“ unterstützen das Projekt seit 2002.
Ein Fall für eine unkonventionelle, pfiffige und plietsche Type wie „Frieda ungefunzt“. Das im Juni erschienene Buch eines Berliner Autoren ist komplett illustriert von Agic Nadza, früher eine der „Dollen Deerns“ in Kirchdorf-Süd. Profis attestieren der 18 Jahre alten Abiturienten enormes Talent. Diese junge Frau geht ihren Weg – wie Frieda im Buch: wild und frech, ein bisschen verrückt, etwas dickköpfig, durchaus sozial. Das kecke Hummelmädchen Frieda ist eben „ungefunzt“. Der Duden beschreibt das Jugendwort funzen etwa so: richtig gut funktionieren. Das passt perfekt zu den „Dollen Deerns“ in Kirchdorf-Süd.