Harburg. Das Harburger Phoenix-Viertel gilt als Brennpunkt-Quartier. Engagierte Menschen schaffen dort Chancen für die Kinder

370 mal 330 Meter, elf Straßen, 16 Blocks, 9500 Bewohner – und wahrscheinlich ein paar Ungezählte. Das sind die Eckdaten des Phoenix-Viertels im Herzen des Hamburger Stadtteils Harburg. Einen guten Ruf hatte das alte Arbeiterquartier nie, doch in letzter Zeit häuften sich die Negativschlagzeilen: Gewalt, Glücksspiel, Drogen und Waffen bestimmen das Bild, das Außenstehende haben. Zwar sind von den fast 10.000 Menschen hier höchstens 100 kriminell und 99 Prozent rechtschaffene Menschen, aber das Stigma des Viertels klebt an allen.

Viele Kinder und viele Alleinerziehende

Besonders betroffen von dem Ruf und den echten Problemen des Quartiers sind Kinder und Jugendliche und davon gibt es hier überdurchschnittlich viele: fast 1900. In 182 Haushalten gibt es mehr als drei Kinder, in 326 Haushalten hingegen nur ein Elternteil. Große Wohnungen sind Mangelware. Die Kinder wachsen hier beengt auf und viele der Eltern haben genügend eigene Probleme, als dass sie ihre Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen könnten. Zum Glück für diese Kinder gibt es im Viertel Orte, wie das „Löwenhaus“:

Es ist kurz nach fünf. In der Küche des Löwenhauses wird es betriebsam. Jeden Tag um sechs gibt es für die kleinen Löwenhausbesucher eine warme Mahlzeit. Die Kinder kochen selbst, aber nicht allein. Honorarkraft Aisha hat heute das Sagen, Erzieher Felix unterstützt sie und auch Hausleiterin Houda guckt kurz herein.

Gemeinsam kochen ist mehr, als nur Essenmachen

Auf dem Plan: Pommes, Salat und vegane Bratwürste. „Auf die veganen Bratwürste wären wir nicht von allein gekommen“, sagt Houda Mbarek, Leiterin des Löwenhauses. „Die waren eine Spende und wir fürchteten eigentlich, dass die bei den Kindern nicht gut ankommen, aber die Lütten lieben sie!“

Elmedina, Omar und Arian sind mit Braten dran. Andere Kinder kümmern sich um Pommes und Salat. Felix und Aisha geben Tipps zum Kochen und Anweisungen für die Sicherheit. Die Kinder lernen hier nicht nur, wie man Essen macht. Sie lernen verantwortliches Handeln, und dass das, was sie tun, etwas bewirkt – und wenn es nur die anderen Kinder satt und froh macht. Bis zu 40 sitzen an manchen Nachmittagen am Tisch.

„Darum geht es in unser Arbeit“, sagt Houda Mbarek, „den Kindern zu zeigen, dass es nicht egal ist, was sie tun. So kann man sie stärken.“

Alle Löwenhauskinder schaffen einen Schulabschluss. Die meisten das Abitur

Im Viertel gibt es so manche Kinder und Jugendliche, die es sich in der vermeintlichen Perspektivlosigkeit bequem machen wollen. Im Löwenhaus nicht. Houda Mbarek ist stolz darauf: „Alle Löwenhauskinder schaffen einen Schulabschluss. Die meisten das Abitur“, sagt sie. „Und alle gehen hinterher in eine Berufsausbildung oder ein Studium.“

Houda Mbarek ist Leiterin des ASB-Löwenhauses im Phoenix-Viertel
Houda Mbarek ist Leiterin des ASB-Löwenhauses im Phoenix-Viertel © HA | Lars Hansen

Dafür müssen sie Beharrlichkeit entwickeln und dazu brauchen sie Ermunterung. „Meine Eltern sind vor 50 Jahren aus Tunesien nach Deutschland gekommen“, sagt die 43-jährige, die eigentlich Lehrerin für Geschichte, Deutsch und Mathe ist, „meine drei Geschwister und ich konnten alle studieren, weil das für meine Eltern keine Frage war und sie uns immer unterstützt haben. Die Kinder, die hierher kommen haben solche Eltern nicht. Wir müssen ihnen solche Eltern sein, wie meine!“

Viele kommen als Praktikanten, Freiwilligendienstler oder Honorarkräfte zurück

Nicht umsonst bezeichnen viele der Kinder das Löwenhaus als ihr zweites Zuhause. Oft sind sie auch traurig, wenn sie nach dem Abendessen irgendwann gehen müssen. „Wenn wir Sommerreisen machen, ist es fast schon egal, wohin“, sagt Houda Mbarek. „Das Highlight für die Kinder sind die gemeinsamen Abende in der Jugendherberge.“

Es sind nicht nur Kinder und junge Jugendliche zwischen 7 und 14, die das Haus besuchen. Wer die Altersgrenze erreicht hat, wird nicht sofort hinausgeworfen. Und wenn ältere Ex-Besucher Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben, werden sie nicht weggeschickt. Viele kommen auch als Praktikanten, Freiwilligendienstler oder Honorarkräfte zurück.

Früher schlugen die Kinder Zeit im Einkaufszentrum tot

Das Team des Hauses ist eine bunte Mischung: Pädagogen, Kreative und ein Koch, Praktikanten, Studenten und Freiwilligendienstler sind Helfer und Ansprechpartner in vielen Fragen. Es gibt Nach- und Hausaufgabenhilfe, Kreativangebote, Sport, Ausflüge und dann und wann sogar gemeinsame Reisen. Jedes Löwenhauskind, das etwas länger dabei ist, kann schwimmen und Fahrrad fahren

Erzieher Felix (von rechts) Ahmed und Tarek machen die Seifenkiste für das große Rennen fertig.
Erzieher Felix (von rechts) Ahmed und Tarek machen die Seifenkiste für das große Rennen fertig. © HA | Lars Hansen

Das Haus gibt es seit 17 Jahren. Auf die Idee kamen seinerzeit Hermann Krüger, Leiter der damaligen Realschule Bunatwiete im Phoenix-Viertel und Rainer Micha, Straßensozialarbeiter beim Arbeitersamariterbund (ASB). Denen fiel beim Kaffeetrinken im Einkaufszentrum Harburg-Arcaden auf, wie viel Kinder sich dort planlos herumtrieben.

Sie sahen Handlungsbedarf und handelten. Seinen Namen hat das Löwenhaus aus dieser Anfangszeit in der damaligen Harburger Geschäftsstelle des ASB. Das Gebäude, eine ehemalige Teehandlung und Apotheke hat zwei große Bronzelöwen neben der Eingangstreppe.

Ballettschule klagte gegen Problemkinder

Allerdings gab es bald Ärger: Der Ballettschule im selben Haus gefielen die neuen Nachbarn nicht. Der Einrichtung wurde gerichtlich das Kochen verboten. Damit war das Löwenhaus in den Schlagzeilen. Viele Harburger solidarisierten sich. Die Gastronomen der Harburger Altstadt übernahmen das Kochen und brachten den Kindern das Essen als Spende vorbei.

Das Löwenhaus zog trotzdem um ins Phoenix-Viertel – auch um näher an der Zielgruppe zu sein. Nach Hermann Krüger, der 2017 verstorben ist, und der auch über das Löwenhaus hinaus viel für das Viertel bewegt hat, ist der Platz vor dem Haus benannt.

Houda Mbarek befand sich, als Hermann Krüger starb, gerade im Lehramtsreferendariat. Man bat sie, die Leitung des Hauses zu übernehmen, in dem sie schon als Studentin für Hermann Krüger tätig war. „Ich habe nur kurz überlegt, sagt sie. „Denn hier kann ich mehr bewirken, als im Klassenzimmer.“

Derzeit strickt sie noch am Ferienprogramm. Gern würde sie wieder eine Sommerreise anbieten, und einen Ausflug in den Heidepark, aber noch hat sie die Sponsoren dafür nicht gefunden. Und jetzt gerade ist auch etwas ganz anderes noch wichtig: Heute tritt beim ersten Phoenix-Viertel-Seifenkistenrennen nach Corona auch das Löwenhaus wieder an. Es gilt, den Pokal von 2019 zu verteidigen!