Hamburg. Mit ihrem Mentoring-Verein “Zeit für Zukunft“ öffnen Kathrin Sachse und ihr Team Kindern neue Horizonte.
Einbruch, Diebstahl, Schlägereien, täglich war Kathrin Sachse als Jugendrichterin in Hamburg mit straffälligen Jugendlichen konfrontiert. Junge Menschen, die in Wilhelmsburg und Kirchdorf-Süd aufgewachsen waren, das waren die Stadtteile, für die Sachse zuständig war. „Viele der Jugendlichen kamen allein, hatten ihren Eltern nichts vom Strafverfahren erzählt aus Angst vor ihnen“, erzählt die 47-Jährige.
Auch wenn die jungen Straftäter aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Elternhäusern kamen, „hatten alle gemein, dass ihnen eine Bezugsperson als positives Rollenvorbild fehlte. Jemand, der ihnen Rückhalt bietet, Mut macht und da ist, wenn mal was schiefläuft.“ Für sie sei frustrierend gewesen, dass schon so viel mit diesen Jugendlichen zuvor passiert war – Schule schwänzen, Alkohol und Drogen. „Wir sind als Jugendrichter häufig das Ende der Fahnenstange“, sagt Sachse.
Die Jugendrichterin wurde zur Jugendhelferin
So kam es ihr ein wenig wie eine Vorsehung vor, als ein Spendenbittbrief der Organisation „Big Brothers Big Sisters“ auf ihrem Schreibtisch landete, der ihrem Leben eine neue Richtung geben sollte – eine Erfüllung neben dem Richteramt. Sachse bewarb sich als Mentorin. Sie wollte mitmachen und einem Kind aus schwierigen Verhältnissen schon früh zur Seite stehen, als Halt und Ratgeberin sowie als Begleiterin, bis es erwachsen ist.
„Ich sehe das als Präventionsmaßnahme. Wir müssen tätig werden, bevor etwas passiert, bevor Kinder in Gruppen geraten, die einen schlechten Einfluss auf sie ausüben“, sagt sie leidenschaftlich. Denn sie traf ihre Mentee Ceren vor elf Jahren und betreut die inzwischen 20-Jährige bis heute.
Kathrin Sachse ist behütet aufgewachsen
Bei ihrem Kennenlerntreffen war die damalige Drittklässlerin mit türkischen Wurzeln ein „sehr stilles, schüchternes Kind, das noch nichts erlebt hatte“. Ceren war noch nie U-Bahn gefahren, Kathrin Sachse ging das erste Mal mit ihr in ein Kino, ins Museum und zum Schlittschuhfahren, weil die alleinerziehende Mutter bedürftig war und sich solche Aktivitäten nicht leisten konnte.
Kathrin Sachse hatte als behütetes Einzelkind zweier Lehrer in Düsseldorf das Gegenteil erfahren „Meine Eltern haben viel mit mir unternommen. Ich durfte so viel ausprobieren und herausfinden, was mir Spaß machte.“ Sie hätten ihr mit der Erziehung viel Sicherheit und Zuversicht gegeben. „Kraft gebende Ressourcen, die mir gerade auch im Strafrecht mit seinen belastenden Schicksalen und Lebenswegen helfen“, sagt sie, die vor dem Richteramt ein knappes Jahr lang als Sprecherin des damaligen Justizsenators Carsten Lüdemann gearbeitet hat. Richterin ist sie geworden, „weil ich Entscheidungen treffen und nicht als Rechtsanwältin Interessen vertreten möchte, die womöglich nicht meine eigenen sind.“
Sachse gründete den Nachfolger von "Big Brothers Big Sisters"
Und Sachse hatte das Bedürfnis, einem kleinen Mädchen neue Welten zu eröffnen. Zwei Jahre lang holte sie Ceren von 2011 an freitags zu Hause ab, bis sie erfuhr, dass das Mentoringprogramm „Big Brothers Big Sisters“ von einem Tag auf den anderen aufgelöst wurde. „200 Tandems standen in Hamburg plötzlich ohne Organisation da“, empört sie sich. Zusammen mit ein paar weiteren Paten gründete sie nur wenige Monate später eine Nachfolgeorganisation namens „Zeit für Zukunft e. V.“, die sie seither im Vorstand führt.
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40 Tandems waren Anfang 2014 noch übrig. „Das zeigt, was passiert, wenn es keine Betreuung der Tandems gibt. Wir haben uns dann andere Mentorenprogramme angeschaut, bei denen wir eventuell unterkommen könnten. Aber wir passten mit unserer großen Altersspannen von Kindern zwischen sechs bis 16 Jahren nirgendwo rein“, sagt sie. Mit einem kleinen Team baute Sachse ein neues Mentorenprogramm auf, bei dem alle Erwachsenen willkommen sind, „die Lebens- und Berufserfahrung haben, verantwortungsbewusst, tolerant und empathisch sind“.
"Zeit für Zukunft" kümmert sich auch um Geflüchtete aus der Ukraine
Sie werden inzwischen von vier Mentoring-Beraterinnen betreut, welche die Tandems matchen und neben einem Einführungsworkshop auch Vorträge zu Themen wie Pubertät und Kommunikation halten. Die Kinder kommen über Schulen oder auch Jugendämter zum Verein, viele sind Geflüchtete, Halbwaisen oder kommen aus großen Familien mit vielen Geschwistern. „Die Eltern treffen die Entscheidung, ob ihr Kind bei uns mitmachen darf, und ich freue mich, dass sie nicht nur so vertrauensvoll uns gegenüber sind, sondern auch erkennen, dass es ihrem Kind gut tut, einen Mentoren an der Seite zu haben“, sagt Kathrin Sachse.
Sie und ihr Team reagieren auch schnell auf gesellschaftliche Situationen. Als während der Corona-Pandemie Schüler durch das Homeschooling Lernrückstände aufbauten, organisierte der Verein digitale Lerntandems, von denen einige nun Freizeittandems wurden. Seit dem Krieg gegen die Ukraine gibt es Willkommenspatenschaften für Mentees mit Fluchterfahrung aus der Ukraine und anderen Ländern, von denen die ganze Familie profitiert. „Dabei liegt der Fokus auf dem Ankommen im Hamburg. Unsere Paten begleiten mindestens sechs Monate, helfen den Mentees, Gleichaltrige kennenzulernen, bringen schon etwas Deutsch bei.“
Als Jugendrichterin arbeitet Sachse nicht mehr – aber als Jugendhelferin
Gerade hat das Team unter dem Motto „Horizonte öffnen“ ein neues Programm zur Persönlichkeitsentwicklung für Mentorinnen und Mentoren erstellt. „Wir erhoffen uns davon die Möglichkeit, durch Unternehmenskooperationen neue Mentoren zu gewinnen.“ Denn aktuell gibt es zwar 133 Tandems, aber 90 Kinder sind auf der Warteliste. Vor allem Männer werden als Paten dringend benötigt.
Für ihre Arbeit als Jugendrichterin – inzwischen ist Sachse wieder im Erwachsenenstrafrecht – habe sich ihr durch ihren Verein die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen noch weiter erschlossen. Als Patin habe sie von ihrem Mentee vor allem viel Dankbarkeit bekommen. Ceren ist auf einem guten Weg, macht eine Ausbildung und hat eine eigene Wohnung. „Sie hat viel Selbstvertrauen gewonnen, und das freut mich sehr“, sagt Sachse. Einen besonders beglückenden Schlüsselmoment erlebte sie bei einem der Treffen unterwegs in der U-Bahn, als das Mädchen spontan zu ihr sagte: „Ich weiß nicht, wo ich heute ohne dich wäre.“
Info-Abende für interessierte Mentoren: 14.3., 19 Uhr, Büro von Zeit für Zukunft, Bornstraße 20. 17.4., 19 Uhr, Gemeindehaus St. Michaelis, Englische Planke 1 (beide Termine auch per Zoom möglich). www.zeitfuerzukunft.org