Mit zwölf erkrankt Olivia an Corona. Ihre Mutter Birte beschreibt, wie ihre Tochter zum Pflegefall wird. Die Ärzte wissen nicht weiter.

Diese Woche ist unsere Tochter Olivia 14 geworden. Ich glaube ich habe noch nie einen Geburtstag so sehr gefeiert. Nur dass es wirklich schon der 14. ist, bekomme ich nicht in den Kopf. Es muss daran liegen, dass am 13. Geburtstag unser Long-Covid-Albtraum bereits begonnen hatte – auch wenn wir das zu dem Zeitpunkt noch nicht wussten. Eigentlich dachten wir, der schlimmste Teil der Pandemie sei überstanden.

Die Zeit war hart gewesen. Olivias zwei Jahre älterer Bruder Willi ist schwer geistig behindert, und als im Lockdown alle Hilfen wegfielen, wurde unser Alltag zur Zerreißprobe. Aber wir hatten es geschafft, waren alle geimpft, die Kinder gingen wieder zur Schule und mein Mann und ich konnten endlich wieder arbeiten. Als wir uns in der ersten Jahreswoche 2022 alle mit Corona ansteckten, wurde keiner schwer krank. Zwei Wochen nach der Infektion ging Willi wieder in seine Förderschule, nur Olivia war noch zu erschöpft und blieb zu Hause. Eine Freundin brachte die Schulaufgaben. Wir liehen ein paar Puzzles von Oma und Opa und übten Vokabeln. Ich rechnete fest damit, dass es Olivia bald bessergehen würde.

Jeder Schritt überfordert das Kind

Aber es passierte das Gegenteil, sie wurde immer schwächer. Die Party zum 13. Geburtstag sagten wir ab und das neue 1500er-Harry-Potter-Puzzle mussten wir auf dem Boden machen. Auf einem Stuhl zu sitzen war für Olivia zu anstrengend geworden. Alle paar Minuten musste sie sich hinlegen um auszuruhen.

Trotzdem war ich nicht ernsthaft beunruhigt. Nur dass ich kaum arbeiten konnte, nervte mich. Der Kinderarzt blieb auch entspannt und sagte, Jugendliche benötigten oft mehrere Wochen, um sich von der Infektion zu erholen. Immer wieder drängte ich Olivia, mit mir ein paar Schritte draußen an der frischen Luft zu gehen, obwohl sie mir versicherte, das sei zu anstrengend.

Bald kann Olivia nur noch krabbeln

„Ich bin so fertig!“, waren ihre häufigsten Worte. Ich dachte, wenn wir jeden Tag ein paar Schritte mehr gingen, käme mein Kind Stück für Stück von selbst auf die Beine. Aber stattdessen musste ich für Olivia einen Klapphocker mitnehmen, weil sie sich alle paar Meter hinsetzen musste und zu Hause krabbelte sie auf allen vieren die Treppen hoch. Bald musste sie gestützt werden, um überhaupt aufrecht gehen zu können. Dazu kamen heftige Kopfschmerzen.

Also saßen wir wieder beim Kinderarzt, der mir nach einer Blutabnahme ausrichten ließ, ich solle mir keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung. Aber mittlerweile machte ich mir Sorgen. „Ich funktioniere einfach nicht mehr“, sagte Olivia oft weinend abends im Bett. Gerne hätte ich mit dem Kinderarzt über meine wachsende Angst vor Long Covid gesprochen, doch die Praxis wimmelte mich Woche um Woche ab.

Der ganze Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ mit Birte Müller und dem Kinderarzt Dr. Joachim Riedel zum Thema Long Covid bei Kindern unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch
Der ganze Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ mit Birte Müller und dem Kinderarzt Dr. Joachim Riedel zum Thema Long Covid bei Kindern unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Ich google normalerweise keine Krankheiten, aber nun begann ich im Internet zu Olivias Zustand zu recherchieren, wann immer ich mich nicht um eines meiner beiden Kinder kümmern musste. Ich fand diverse Artikel, in denen Ärzte behaupteten, Long Covid bei Kindern sei ein überschätztes Problem oder es gebe es gar nicht. Eltern, die sich in Facebook-Gruppen über Long Covid austauschen, erzählten dagegen etwas anderes.

Keine zugelassenen Therapien für Kinder

Viele der betroffenen Kinder gingen seit über einem Jahr nicht zur Schule, wurden im Rollstuhl geschoben und verbrachten ihre Tage im Bett. Ich las von schweren Konzen­trations- und Schlafstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche und immer wieder von starken Schmerzen und extremer Erschöpfung.

Die meisten Kinder waren nach der Corona-Infektion, einige nach der Impfung dagegen erkrankt. Viele beschrieben, dass sie nicht ernst genommen wurden und man versuchte, ihren Kindern psychische Probleme anzudichten. Das Schlimmste war, dass ich erfuhr, dass es noch keine zugelassenen Therapien gegen Long Covid gab. In ihrer Verzweiflung versuchten viele Familien alles nur Erdenkliche an nicht wissenschaftlich fundierten Behandlungen – sofern sie das Geld dafür hatten.

Die Podcast-Folge mit Birte Müller:

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Neue Kinderärztin nimmt Familie endlich ernst

Ich erfuhr von den anderen Müttern, dass erst mal für alle Erkrankten Pacing das Wichtigste sei. Ich hatte das Wort noch nie gehört. Es bedeutet, niemals mit den Kräften an die Grenze der eigenen Belastbarkeit zu gehen, sondern immer darunter zu bleiben. Intuitiv hatte ich das Gegenteil getan. Damit Olivias Zustand sich nicht weiter verschlechterte, mussten wir also nun jede Anstrengung vermeiden. Ich strich alle Spaziergänge und Schulaufgaben, nervte Olivia von da an dauerhaft beim Basteln oder Fernsehen mit der Frage, ob es zu anstrengend sei. Einmal antwortete sie: „Mama, sich langweilen und traurig sein ist auch anstrengend.“

Olivia mit ihrer Mutter bei einem Ausflug an der frischen Luft. Zwischendurch ist das Mädchen zu schwach, um im Rollstuhl zu sitzen.
Olivia mit ihrer Mutter bei einem Ausflug an der frischen Luft. Zwischendurch ist das Mädchen zu schwach, um im Rollstuhl zu sitzen. © Matthias Wittkuhn | Matthias Wittkuhn

Wir hatten das große Glück, mit Olivia zu Willis Kinderärztin wechseln zu können, die die Probleme ernst nahm. Doch allein der Besuch in einer Arztpraxis ging nun schon weit über Olivias Kräfte hinaus. Die Ärztin riet zu strenger Schonung, ein Hinweis, den ich mir gleich zum Anfang der Erkrankung gewünscht hätte.

Das Alltag außerhalb geht ohne sie weiter

Außerdem überwies sie Olivia zu einem Herzecho, um eine Herzmuskelentzündung auszuschließen. Olivia verbrachte die Tage auf dem Sofa, häkelte und filzte. Wir spielten und sprachen viel. Die Momente, in denen Olivia begriff, dass das Leben in der Schule, der Theatergruppe oder bei den Pfadfindern einfach weiterging, ganz ohne sie, waren schmerzhaft.

Im Februar schneite es. Seit Jahren läuft Olivia beim ersten Schnee am Morgen nach draußen und baut einen Schneemann. Das ist Kult. Nun schaute sie weinend aus dem Fenster. Auf einem Tablett holten wir ein paar Hände voll Schnee herein und Olivia formte ein winziges Schneemenschlein. Das tröstete unsere Herzen etwas.

Bollerwagenausflug: Der schönste Tag ihres Lebens

Anfang März, nach gut zwei Monaten, hatten wir das Gefühl, dass es Olivia endlich etwas besser ging. Sie hatte zwar noch nicht die Kraft zum Gehen, aber sie saß wieder mehr und fühlte sich nicht mehr so krank. Doch nur ein einziger sonniger Nachmittag, an dem zum ersten Mal ein paar Schulfreundinnen kamen und sie draußen im Bollerwagen lachend durch die Siedlung zogen, machte alles kaputt. Am Abend sagte Olivia, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Am nächsten Morgen hatte sich ein bleiernes Gefühl auf ihren ganzen Körper gelegt und sie konnte von da an keinen einzigen Schritt mehr gehen, geschweige denn stehen.

Die Kopfschmerzen wurden nun unerträglich. Olivias Herz raste, selbst wenn sie lag, und geriet aus dem Takt. Das machte Angst – doch bis zu dem mühsam ergatterten Termin bei der Kardiologin waren es noch Wochen. Ich war verzweifelt. Je mehr ich mich zu Olivias Krankheitsbild informierte, umso klarer wurde mir, dass Post Covid in dieser Form mit dem Krankheitsbild ME/CFS übereinstimmt, dem Chronischen Fatigue-Syndrom. Es ist zwar lange bekannt, aber weitestgehend unerforscht.

Das Wohnzimmer wird zur Krankenstation: Olivia feiert den Geburtstag ihres Bruders Willi im Bett.
Das Wohnzimmer wird zur Krankenstation: Olivia feiert den Geburtstag ihres Bruders Willi im Bett. © Matthias Wittkuhn | Matthias Wittkuhn

Viele Erkrankte verbringen ihr Leben im Bett in abgedunkelten Zimmern. Nach jeglicher Aktivität verschlechtert sich ihr Zustand. ME/CFS tritt meistens nach Virusinfektionen auf. Es gilt als nicht heilbar. Schon vor Corona litten daran mehr als 250.000 Menschen in Deutschland.

Der Zustand verschlechtert sich rapide

Ein Selbsthilfeverein schickte mir Informationen und warnte mich vor Sorgerechtsklagen, Reha- oder psychiatrischen Einrichtungen. Im Internet stieß ich neben den vielen Aufrufen nach mehr Forschung und Aufklärung zu ME/CFS auch auf eine Petition für Sterbehilfe. Konnte das alles wahr sein?

Mitte März fuhren wir mit Olivia das erste Mal ins Krankenhaus. Ich ging fest davon aus, dass man ihr dort helfen würde. Doch es ging nie um Therapie, nur um die Diagnose. Man untersucht alles Erdenkliche und wenn nichts gefunden wird, geht man von Long Covid oder einer psychischen Erkrankung aus. Die Untersuchungen waren für Olivia unvorstellbar belastend und ihr Zustand verschlechterte sich rapide. Sie konnte nicht mehr im Rollstuhl sitzen – nicht mal bis zur Toilette – und musste meist gefüttert werden. Vielleicht waren die Ärztinnen und Ärzte genauso hilflos wie wir. Ich weiß es nicht, niemand wollte mit uns sprechen.

Olivia kann nicht mal mehr den Kopf heben

Nach einer Woche fuhren wir ohne jegliches Behandlungskonzept nach Hause und trugen unsere Tochter dort in ein Pflegebett, das nun in unserem Wohnzimmer stand und das sie über Monate nicht wieder verlassen sollte. 15 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes war nun mein zweites auch ein Pflegefall. Olivia konnte nicht mal mehr den Kopf heben.

Ich habe bis heute keine Worte für meine Fassungslosigkeit darüber, dass sich in unserem Gesundheitssystem keiner dafür verantwortlich fühlte, meinem Kind zu helfen. Selbst wenn es keine zugelassenen Therapien gibt, hätte nicht die Uniklinik etwas versuchen müssen? Als es Olivia einmal so schlecht ging, dass sie laut um Hilfe schrie und ich einen Rettungswagen rief, gab man ihr im Krankenhaus Beruhigungsmittel und setzte uns gnadenlos vor die Tür, obwohl ich unter Tränen darum flehte, uns nicht abzuweisen. Niemals war ich so verzweifelt!

Eltern fühlen sich wie Zombies – ständig überfordert

Oft wollte Olivia nicht mehr leben. „Ich bin kein richtiger Mensch mehr“, sagte sie und bezeichnete sich fortan als Wurm. Manchmal trugen wir unser geliebtes Wurm-Mädchen auf die Terrasse, damit es den Frühling sehen konnte, aber auch das war zu anstrengend. Sie hatte eine extreme Geräuschempfindlichkeit und unerträglichen Schwindel bei den leichtesten Erschütterungen entwickelt, die ihr das Dasein zur Hölle machten. Die Pflege zweier vollkommen unselbstständiger Kinder war für meinen Mann und mich trotz aller Hilfe unserer Familie nicht leistbar. Wir funktionierten wie Zombies.

Zum Glück machte unsere Kinderärztin Hausbesuche. Olivias Bettlägerigkeit verursachte ständig neue Probleme: verätzte Speiseröhre, Rücken- und Gelenkschmerzen, Verstopfung und Druckstellen. Wir standen auch im Kontakt mit einer Post-Covid-Ambulanz, doch auch dort wollte keiner mit mir über Therapien sprechen, zu denen es noch keine Studien gab – und bis heute nicht gibt. Während man mir sagte, man wisse noch zu wenig über Long Covid, wusste ich mittlerweile eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass es sich in vielen Fällen um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte. In Olivias Blut hatten wir in einem Speziallabor Autoantikörper nachweisen lassen, die sich gegen den eigenen Körper richten.

Eine Immunadsorption hilft endlich

Als der Sommer kam, fanden wir einen Nephrologen in Norddeutschland, der bereit war, bei Olivia stationär einen individuellen Heilversuch zu machen und mittels einer Immunadsorption die Autoantikörper zu entfernen. An fünf Tagen lief dafür Olivias gesamtes Blut durch ein Filtergerät. Aufgrund seiner Erfahrungen war der Arzt optimistisch, dass sich die Autoantikörper nicht nachbilden würden. Er behielt Recht.

Nach vier Wochen begann sich unser „Wurm“ wieder in das lebensfrohe, aktive Kind zu verwandeln, das es vorher gewesen war. Zuerst konnte sie nur den Kopf heben, zwei Wochen später frei sitzen. Wir feierten alles: den ersten Gang zur Toilette, die erste Nacht im eigenen Bett, den ersten Besuch im Rollstuhl bei der Freundin, die ersten Schritte mit der Physiotherapeutin.

Das Kind hat ihr Leben zurück

Ende Juli packten wir den Rolli ein und fuhren ans Meer. Freies Gehen im Sand, baden im Meer, schlafen am Strand. Nach dem Sommer konnte Olivia stundenweise zurück in ihre Klasse, ohne Leistungsdruck. Jetzt nimmt sie bis auf Sport wieder an allem teil. Für die Traumabewältigung steht uns ein Psychologe zur Seite. Nie bin ich so glücklich gewesen. Meine Kind hat sein Leben zurück, nur der Spitzname Wurmi ist ihr geblieben – und das Wissen, dass es noch viele Erkrankte gibt, die dringend Hilfe benötigen.

Der ganze Podcast zum Thema Long Covid bei Kindern mit Birte Müller und Kinderarzt Dr. Joachim Riedel (Werner Otto Institut) unter: https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/

Infos zu Kliniken: long-covid-verband.de , Elterninitiative: nichtgenesenkids.de