Willi ist 14, hat das Down-Syndrom und ist mitten in der Pubertät. Seine Mutter berichtet schonungslos über diese Herausforderung.

Wer ein pubertierendes oder geistig behinderten Kind hat, lebt mit vielen Herausforderungen. Unser Sohn Willi ist 14 Jahre alt und bietet uns gleich beides. Er strebt nach Selbstbestimmung, aber ich finde nicht, dass er damit umgehen kann. Sicher kennen fast alle Teenager-Eltern dieses Gefühl. Bei uns ist es aber so, dass Willi nicht mal theoretisch in der Lage ist, sich anzuziehen, ein Brot zu streichen oder mit uns zu sprechen. In fast allen Lebensbereichen benötigt er die Hilfe von genau den Menschen, von denen er sich jetzt eigentlich abnabeln sollte: Von Mama und Papa! Zugegeben: In einer unbeobachteten Sekunde an den Kühlschrank gehen und blitzschnell 400 Gramm Käse aufessen und einen Liter Tomatensaft trinken, das bekommt Willi auch alleine hin, solange beide Packungen bereits offen sind.

Willi ist ein Fulltime-Job. Dass ich überhaupt arbeiten kann und auch mal Zeit für Willis kleine Schwester Olivia habe, verdanken wir Willis absolut verlässlichen Förderschule und unseren Eltern. Aber Zeit für mich allein und mit meinem Mann? Das gibt es fast nie bei uns. Ich bin sehr belastbar, viel mehr als ich es früher geahnt hätte.

Die Coronazeit war hart für die Familie

Aber manchmal ist meine Erschöpfung so groß, dass ich mich hier Zuhause wie in einem Gefängnis fühle. Die Coronazeit bis zu Willis Impfung war sehr hart für uns und ich habe mich davon noch nicht erholt. Trotzdem würde ich uns als eine glückliche Familie bezeichnen. Das haben wir – wie so manchen Stress – auch Willi zu verdanken. Vieles, woran sich andere Menschen aufreiben, nehme ich überhaupt nicht mehr erst. Wir lachen hier Zuhause über fast alles.

Das Leben mit Willi ist wie eine Aneinanderreihung skurriler Situationen. Oft haben wir das Gefühl, mitten in Monty Python’s Flying Circus zu leben. Es kommt vor, dass Olivia – animiert von einer besonders lustigen Gangart ihres Bruders – mit ihm so gemeinsam die Straße entlangmarschiert, dass man sogar im „Ministry of Silly Walks“ in lautes Lachen ausbrechen würde.

Wehe dem, den Willi streichelt!

Und selbst wenn Willi nicht dabei ist, sind wir gnadenlos albern. Vieles an Willi, was Außenstehenden extrem befremdlich erscheint, empfinden wir sogar als „niedlich“. Zum Beispiel, wenn Willi versucht, mit den absurdesten, Lauten und Bewegungen etwas zu erzählen. Oder wenn er jemandem zeigen möchte, dass er ihn liebhat, indem er ihn ausgiebig streichelt – was vom Bewegungsablauf dann eher so aussieht, als würde er einen Tisch abwischen. Man kann immer nur hoffen, dass er nicht versucht einem über den Kopf zu streicheln! Und dann erst Willis Ausdruckstanz! Wir finden ihn lustig, aber wer Willi nicht kennt, bekommt einfach Angst.

Spätestens seit dem Einsetzen der Pubertät merke ich, dass unsere Außenwelt anders auf Willi reagiert. Er ist nun kein niedlicher Junge mit Behindertenbonus mehr, der lächelnd seine Händchen in die Richtung eines Franzbrötchens einer fremden Dame ausstreckt. Wenn ich nicht höllisch aufpasse, ist er ein unvorstellbar schlecht erzogener Jugendlicher mit Flaum auf der Oberlippe, der anderen in die Pommes mit Majo grabscht. Dabei lacht Willi am besten noch mit tiefem Bariton – da lächelt niemand mehr zurück und sagt „Ach lassen Sie ihn doch!“. Zu Recht!

Willi spricht nur wenige Worte, aber die dann oft

Seit der Pubertät wird Willi in vielen Bereichen anders interpretiert als früher. Willi spricht nur sehr wenige Worte und diese dafür dann sehr oft. Eines davon ist absurderweise Afrika. Einmal hatte sein Schulbusfahrer ihn deswegen im Verdacht ein absolut unmögliches Schimpfwort zu sagen, nämlich „Arschficker“. Für mich ist die Vorstellung, Willi würde dieses Wort sagen noch skurriler, als die Tatsache, dass er überhaupt Afrika sagt.

Das Gespräch mit Birte Müller kann man im Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ hören
Das Gespräch mit Birte Müller kann man im Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ hören © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Ich bilde mir ein, dass Willi nicht mal weiß, was Arsch überhaupt bedeutet (vom F-Wort ganz zu schweigen). Willi nennt seinen Hintern Opopo (eines seiner wenigen verständlichen Worte) und findet ihn toll, weil er so ein schönes Pupsgeräusch machen kann. Auch das findet seit der Pubertät in der Öffentlichkeit niemand mehr lustig – und ich fand Pupsen im Bus schon nicht witzig, als Willi noch als kleiner Sonnenschein durchgegangen ist.

Kann der Junge die sexuelle Reife nicht aufschieben?

Seinem wachsenden Penis hat Willi bis jetzt keine besondere Beachtung geschenkt. Wenn es soweit ist, wird unser Leben mit Sicherheit noch mal um einiges komplizierter – und nicht nur, weil Willi dann mit einer Erektion sicher morgens im hohem Bogen auf den Badezimmerboden pinkelt. Ich wünschte, Willi würde seine sexuelle Reife einfach aufschieben, bis er ausgezogen ist.

Ich habe wirklich große Angst davor, wie es wird, wenn mein Sohn, der so wenig Impulskontrolle hat, Interesse an Sex entwickelt. Es ist ohnehin schon schwierig, mit ihm in die Öffentlichkeit zu gehen. Willi lernt zwar immer besser, nicht gleich zuzugreifen, wenn er etwas haben möchte. Aber ich glaube nicht, dass es mir als ein Erziehungserfolg angerechnet wird, wenn er anderen Frauen „nur“ begeistert auf den Busen zeigt!

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Windeln und Schamhaare sind schwierig für eine Mutter

Ich fordere meinen Mitmenschen jetzt schon einiges an Toleranz ab. „Da müssen sie durch“, denke ich, wenn Willi zu laut ist oder fremde Leute anspricht und auch mal berührt. Sonst müsste ich mich ja mit ihm vollends Zuhause einsperren. Aber sollte Willi eines Tages stolz seine Erektion herumzeigen, kann man das niemandem zumuten. Ich finde es irgendwie ungerecht, dass mein Kind in keinem Punkt altersentsprechend entwickelt ist und als einziges die Pubertät rechtzeitig kommt! Windeln und Schamhaare, das ist für mich als Mutter einfach schwierig unter einen Hut zu bekommen. Und was damit auch schwer zu bekommen ist: Junge Leute, die bereit sind, Willi in seiner Freizeit zu betreuen.

Freizeitangebote für wirklich schwer behinderte Kinder gibt es fast gar nicht. Und oft entlasten sie die Familien nicht mal, weil man zu lange Anfahrtswege hat. Aber für Willi wäre es so wichtig, mit Gleichaltrigen herumzuhängen. Und für mich wäre Entlastung so wichtig. Aber statt mein Kind langsam immer mehr loszulassen, hocken wir immer nur noch mehr aufeinander. Und die coolsten Leute zum gemeinsamen Chillen bleiben Oma und Opa. Ein Glück, dass wir sie haben – aber fürs Entdecken der Sexualität sollten es doch bitte Gleichaltrige sein.

Unterstützung für Kinder mit Down-Syndrom gibt es bei Kids Hamburg e.V., www.kidshamburg.de