Hamburg. Nach einem Zusammenprall mit einem Auto wurde Anette D. an den Straßenrand geschleudert – und raus aus dem Leben wie sei es kannte.
Die Erinnerung ist wie ausgelöscht. Nur noch Schwärze, keine Farben, keine Bilder, keine Geräusche, nichts. Das Einzige, was die Frau noch weiß, ist, dass sie damals spät dran war und rasch zur Arbeit wollte. Und irgendwann das Bewusstsein wieder erlangte, viel später, auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Zweieinhalb Jahre ist der Unfall jetzt her, bei dem Anette D. (alle Namen geändert) nach einem Zusammenprall mit einem Auto an den Straßenrand geschleudert wurde – und raus aus dem Leben, wie die 38-Jährige es bis dahin gekannt hat.
Es ist ein mühsamer Weg wieder zurück. Anette D. hat weite Strecken davon geschafft, manches liegt noch vor ihr, vor allem auch die juristische Aufarbeitung des Verkehrsunglücks vom April 2015 in Altona. Trägt der Mann, von dessen Auto sie auf einer mehrspurigen Straße in Altona erfasst wurde, Schuld an dem Unfall, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Und inwieweit hat das Opfer Anspruch auf finanzielle Entschädigung, etwa Schadenersatz und Schmerzensgeld? Letzteres wird ein Zivilgericht zu klären haben, die Schuldfrage wird auch strafrechtlich aufgearbeitet.
Der Angeklagte wirkt vor Gericht erschüttert
Vor Gericht soll geklärt werden, ob der Unfall für Autofahrer Sascha F. vermeidbar war, inwieweit es möglich gewesen wäre, die Frau rechtzeitig zu sehen und zu bremsen. Fahrlässige Körperverletzung wird dem 37-Jährigen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen. Laut Ermittlungen hat das Opfer die Straße überqueren wollen, obwohl die Ampel für die Frau Rot zeigte.
„Sie tauchte ganz plötzlich auf!“ Der Angeklagte wirkt erschüttert und belastet, als stehe ihm die Szene heute noch deutlich vor Augen, wie die Frau morgens gegen 9 Uhr für ihn völlig überraschend im Weg gestanden habe und er verzweifelt versuchte, einen Zusammenprall zu verhindern. Die Frau sei „sehr schnell, eher hopsend“ unterwegs gewesen.
Schwere Kopfverletzungen
Auch Sascha F. war an jenem Tag auf dem Weg zur Arbeit. Sie sei wohl vorher durch ein Fahrzeug, das auf der Linksabbiegerspur gestanden habe, verdeckt worden, ringt der blasse Brillenträger um eine Erklärung. Er habe trotz Bremsversuchs nicht vermeiden können, dass die Front seines Kleinwagens die 38-Jährige mit solcher Wucht rammte, dass sie weit durch die Luft flog.
An ihrer rechten Körperhälfte blieb kaum noch etwas heil, unter anderem hatte das Opfer schwere Kopfverletzungen, Rippenserienbrüche sowie Arm- und Beinfrakturen. Monatelang musste die Frau im Krankenhaus behandelt werden. Und noch immer stehen ihr Operationen bevor, weil manche der Brüche hatten genagelt beziehungsweise geschraubt werden müssen. Seit einiger Zeit kann sie wieder arbeiten gehen.
Gutachter hat den Unfall digital rekonstruiert
Der Fall ist schon einmal verhandelt worden, vor dem Amtsgericht, das den 37-Jährigen verwarnt und eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 50 Euro vorbehalten hatte – eine sogenannte Geldstrafe auf Bewährung. Es ist die mildeste Sanktion, die das Strafrecht vorsieht. Sascha F. leidet bis heute darunter, dass er einen Menschen so schwer verletzt hat, er ist gleichwohl davon überzeugt, dass er keine Schuld an dem Unfall trägt. Deshalb legte der Hamburger gegen die Entscheidung Berufung ein, über die jetzt vor dem Landgericht verhandelt wird.
„Es tut mir furchtbar leid, was da passiert ist“, sagt der Kaufmann. Später braucht er eine kurze Pause, als ein Sachverständiger zu dem Geschehen Stellung nimmt. Der Gutachter hat den Vorfall digital rekonstruiert – das furchtbare Unglück, jetzt nur zweidimensional, aber doch ausreichend wirklichkeitsnah und so eindrucksvoll, dass Sascha F. eine Verhandlungspause braucht – so sehr setzen ihm die Bilder zu.
Wäre die Kollision vermeidbar gewesen?
Der Sachverständige erläutert, entscheidend sei unter anderem, wie schnell die Fußgängerin unterwegs war. Wäre sie mit einem Tempo von sechs Kilometern pro Stunde gegangen, wäre die Kollision womöglich vermeidbar gewesen, vorausgesetzt, es herrschte klare Sicht. Doch wäre die Frau sehr zügig gegangen, mit einer Geschwindigkeit von 7,1 Kilometern pro Stunde oder mehr, hätte ein Zusammenprall von dem Autofahrer bei normaler Stadtgeschwindigkeit auf keinen Fall, auch nicht bei klarer Sicht, verhindert werden können, versichert der Gutachter.
Unfallopfer Anette D. weiß nur noch, dass sie in Eile war. Und mehrere Zeugen berichten, dass die Frau sehr schnell unterwegs war. Aber die Geschwindigkeit genau einschätzen, insbesondere, wenn man selber in Bewegung ist? Das ist unmöglich. Einige haben allerdings beobachtet, dass die 38-Jährige während ihres Überquerens der Straße bei Rot auch mit ihrem Handy telefonierte. Das Mobiltelefon wurde schließlich auf dem Bordstein neben ihrer Handtasche gefunden.
Der Verteidiger spricht in seinem Plädoyer von einem „tragischen Unfall, der das Leben zweier Menschen verändert hat. Manche Dinge passieren einfach.“ Auch die Staatsanwältin beantragt einen Freispruch. So lautet dann auch das Urteil des Landgerichts. Alles, was man weiß, sei, „dass das Opfer sehr schnell unterwegs war“, begründet der Vorsitzende Richter die Entscheidung. „Es ist sehr gut möglich, dass der Unfall unvermeidbar war.“