Hamburg. Das Oberverwaltungsgericht hält Gefahrengebiete für verfassungswidrig. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Die Entscheidung ist ein Paukenschlag: Die Hamburger Polizei führe seit Jahren verfassungswidrige Kontrollen in den sogenannten Gefahrengebieten durch, urteilte das Oberverwaltungsgericht am Mittwoch. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist ein Gefahrengebiet?
Ein festgelegtes Gebiet, in dem die Polizei eine Gefahr oder Straftaten erwartet und Kontrollen ohne konkreten Verdacht durchführen darf. Über die Einrichtung eines Gefahrengebiets entscheidet der Polizeipräsident anhand der internen Lageeinschätzung. Gefahrengebiete gibt es in mehreren Bundesländern. Die Hamburger Regelung basiert auf dem Polizeigesetz von 2005, das die CDU mit dem damaligen Innensenator Udo Nagel (parteilos) „das schärfste Deutschlands“ nannte.
Was hat das Oberverwaltungsgericht entschieden?
Nach Ansicht der Richter verstoßen die Kontrollen in Gefahrengebieten in mehrfacher Hinsicht gegen Grundrechte. Schon die Überprüfung der Personalien bedeute eine hohe „Eingriffsintensität“ in Freiheitsrechte. Die Durchsuchung von Taschen und Rucksäcken, das Aussprechen von Platzverweisen und Ingewahrsamnahmen ohne Verdacht zur Gefahrenabwehr sei unverhältnismäßig. Das Gericht bemängelt auch die mangelnde Bestimmtheit der Maßnahmen: In einem Bereich alle Personen zu durchsuchen, die optisch dem „linken Spektrum“ zuzuordnen sind, sei diskriminierend.
Wo gibt es bislang Gefahrengebiete?
Die Polizei hat zwei dauerhafte Gefahrengebiete gegen Rauschmittelhandel am Hansaplatz (St. Georg) und an der Reeperbahn eingerichtet, ein weiteres Gefahrengebiet in St. Pauli soll der Bekämpfung von nächtlicher Gewalt dienen. Zudem wurden zu Demonstrationen zeitweise Gefahrengebiete eingerichtet, großflächig zuletzt für neun Tage im Januar 2014 in Altona, St. Pauli und Sternschanze. Danach begann die massive Kritik an der Regelung.
Was ändert sich nach dem Urteil?
Die Polizei prüft, ob und in welcher Form die bestehenden Gefahrengebiete dauerhaft weiterbestehen. Dabei sollen auch die bundesweite Rechtsprechung zu den Kritikpunkten des Gerichts analysiert werden. Auch die Politik ist nun am Zug, die Hinweise der Richter umzusetzen. In den bestehenden Gefahrengebieten dürfen Polizisten etwa Rucksäcke weiterhin in Augenschein nehmen, aber nicht durchsuchen.
Dürfen weitere Gefahrengebiete ausgewiesen werden?
Formell hat die Polizei die Möglichkeit dazu. Die Entscheidung des Gerichts ändert nichts an der Rechtsgrundlage der Gefahrengebiete. In der Praxis würde die Polizei ein weiteres Gefahrengebiet nur bei einer extremen Gefährdungslage einrichten. Im Nachhinein wäre mit einer Reihe von Klagen zu rechnen, in denen sich Betroffene auf das jetzige Urteil beziehen könnten.
Wie könnte eine Neuregelung aussehen?
Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages hatte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) angedeutet, dass die Entscheidung über Gefahrengebiete künftig möglicherweise nicht mehr allein beim Polizeipräsidenten liegen wird. So könnte etwa ein Verwaltungsrichter oder sogar die Bürgerschaft entscheiden, ob ein geplantes Gefahrengebiet rechtens und die Zielgruppe der Kontrollen genau genug bestimmt ist.
Wie reagiert die Politik auf das Urteil?
„Das Oberverwaltungsgericht ist sehr klar und deutlich in seiner Kritik“, sagte die Grünen-Abgeordnete Antje Möller. „Die noch bestehenden Gefahrengebiete müssen im Lichte dieses Urteils überprüft werden.“ Möller ist seit jeher eine Gegnerin der Gefahrengebiete gewesen und sieht sich durch die Argumentation der Richter bestätigt. Arno Münster (SPD), der Befürworter von Gefahrengebieten ist, erkennt, dass diese Maßnahme nach diesem Urteil „keinen Sinn mehr macht“. Allerdings wolle er auf dieses Mittel nicht verzichten. „Es muss überarbeitet werden, damit es verfassungsgemäß ist.“
CDU-Innenexperte Dennis Gladiator forderte rasches Handeln: „Der Senat muss sich um eine verfassungskonforme Regelung kümmern.“ Carl Jarchow (FDP) forderte, einen Richtervorbehalt zu prüfen. Die Linke sprach von einer „Ohrfeige“ für den Senat. Innensenator Michael Neumann (SPD) hat sich noch nicht geäußert.