Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch. Sind wir wieder der kranke Mann Europas? Warum die Wirtschaft in der Rezession steckt und was wir von den USA lernen können.
Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.
Matthias Iken: Die Warnungen der Industrie werden immer dringlicher. BDI-Chef Siegfried Russwurm warnt, Deutschland sei inzwischen auf der Verliererstraße. Er fordert einen „Investitionsboom“, um Abwanderungen zu verhindern, weniger Regulierung und niedrigere Strompreise. Warum findet er so wenig Gehör?
Klaus von Dohnanyi: Es ist ja nicht nur der Chef des BDI, der warnt. Stefan Wolf, Präsident von Gesamtmetall, brachte doch vor wenigen Tagen dieselben Klagen hier im Abendblatt vor: zu hohe Energiepreise; zu hohe Unternehmenssteuern; zu kurze Arbeitszeiten und zu hohe Sozialleistungen, das alles im Vergleich zur internationalen Konkurrenz. Und dann die vielen Regulierungen, die für die Unternehmen zusätzliche Arbeit und Kosten bedeuten. Was ist der Grund für diese Entwicklung? Warum ändert sich so wenig, trotz der vielen Beschwerden und trotz der doch offenkundigen Folgen? Wer sich heute noch einmal die Koalitionsvereinbarung der Ampel von 2021 anschaut, der versteht, dass das meiste zwar mit guter Absicht zusammengeleimt wurde, aber von Anbeginn fehlte der Sinn für die finanziellen Folgen des Gesamtpakets und damit der Entschluss, sich für Prioritäten zu entscheiden. Und es fehlte die Einsicht in die belastende Rolle, die auch die EU für die Unternehmen spielt.
Klaus von Dohnanyi: „Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas“
Iken: Überall in Europa aber läuft es besser als hierzulande. Ist Deutschland wieder der kranke Mann?
Dohnanyi: Was heißt hier „wieder“? Unter den „großen vier“ Europas – also Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien – schlagen wir uns nach meiner Meinung gegenwärtig wohl noch am besten, auch wenn nur wir gegenwärtig in einer kleinen Rezession sind. Wir halten die Verschuldung in Grenzen und haben dennoch, wenn auch überstürzt, stolpernd und mit Fehlern, die große Transformation zur CO2-freien Energieversorgung eingeleitet. Wenn man aber ein so großes Ziel verfolgt, dann muss man zugleich darauf achten, dass nicht weitere Belastungen für die Wirtschaft entstehen. Gewiss, ein großer Teil entstammt Regulierungen aus Brüssel; der Draghi-Bericht, über den wir hier schon ausgiebig gesprochen haben, sollte da ein Weckruf sein. Aber wird dieser auch in Brüssel verstanden? Ich fürchte: Nein, denn dieser Bericht stellt die einzige Machtquelle Brüssels, die europaweiten Regulierungen, infrage. Was also könnte Deutschland tun?
„Die USA haben im Vergleich mit Europa so viele Vorteile“
Iken: Sich beispielsweise an den USA orientieren. Sie wachsen deutlich schneller.
Dohnanyi: Die USA haben im Vergleich mit Europa so viele und so unvergleichlich umfangreiche Vorteile, dass man sie hier kaum aufzählen kann: einen gemeinsamen Staat; eine gemeinsame Sprache; eine gemeinsame Geschichte und eine geografische Geschlossenheit. Auch wenn dieses so erfolgreiche Land heute politisch so gespalten erscheint, am Ende werden es doch die VEREINIGTEN STAATEN von Amerika bleiben! Ist es dann ein Wunder, dass dieses Land seine Entscheidungen zielorientierter und schneller treffen kann als eine EU aus 27 Staaten mit 24 Sprachen und 27 unterschiedlichen nationalen Interessen? „The American Dream“, die Chance, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, mag heute so nicht mehr bestehen: Aber im Kern blieb dieses Selbstvertrauen erhalten.
Iken: Trotzdem hinkt Europa den USA seit Jahrzehnten hinterher ...
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Dohnanyi: Sicherlich, als gemeinsamer Markt ist die EU ein Gewinn. Aber zugleich steht die EU mit ihren Ansprüchen auf egalisierenden Regelsystemen unseren deutschen Chancen entgegen, siehe die Autoindustrie. Es ist die Freiheit, das zu tun, was sie im Einzelfall für sich selbst für richtig halten, die den USA ihren Vorsprung immer wieder sichert. Wir haben diese Freiheit nicht mehr. Sie ging an Washington und Brüssel verloren.