Bergedorf. Tief im Osten soll Hamburgs 105. Stadtteil wachsen. Nördlich der S-Bahn-Haltestelle Allermöhe probieren Experten aus, wie die Zukunft aussieht

Auf den ersten Blick liegt dort in Hamburg-Allermöhe bloß ein Feld: Am Horizont erhebt sich der Geesthang, davor wachsen Gras und Getreide. Am Weg dümpelt ein Graben mit dem technokratischen Namen „Nördlicher Bahngraben“, ein kleiner Grünzug mit Eichen, Hagebutten und Schafgarbe liegt verlassen da. Ein schiefes Schild weist den Weg: 15 Kilometer sind es von hier ins Stadtzentrum, 3,6 Kilometer östlich liegt Bergedorf. Ein Ort irgendwo im Nirgendwo. Und bald Hamburgs 105. Stadtteil.

Genau hier sollen in einigen Jahren 15.000 Menschen wohnen und Tausende Hamburger Arbeit finden. Der S-Bahn-Anschluss Allermöhe ist seit Jahren fertig, der Radweg längst gebaut. Noch verläuft hier eine scharfe Grenze zwischen Stadt und Land. Während südlich davon vor drei Jahrzehnten die Stadt erweitert wurde, warten die Felder nördlich auf ihre Stadtwerdung. Etwas Zeit wird noch ins Land gehen; die vorbereitenden Arbeiten sind nicht vor Ende 2024 möglich, der Hochbau dürfte um 2028 beginnen, die Fertigstellung liegt irgendwann in den 40er-Jahren.

Oberbillwerder ist nicht nur ein neuer Entwurf, sondern auch ein Gegenentwurf

Oberbillwerder ist eine besondere Herausforderung. Einen neuen Stadtteil hat Hamburg seit Jahrzehnten nicht mehr bekommen – und er ist in manchem auch ein Gegenmodell zum gegenüberliegenden Allermöhe. Ein Besuch auf dem halbrunden Fleetplatz an der S-Bahn beweist, dass 30 Jahre in der Stadtentwicklung einer Ewigkeit gleichen. Der Platz ist gähnend leer, ein bloßer Parkplatz für Paketboten. Mit Mühe sind die Erdgeschosse vermietet, das Eiscafé serviert Getränke in Dosen, und dem Fleet-Grill-House sind ausgerechnet das l und das G in der Lichtreklame entfallen. Passt auch so.

Oberbillwerder
Ein Blick auf die fünf Quartiere des neuen Stadtteils Oberbillwerder, der nördlich der S-Bahn liegt © IBA | IBA

In den 80er-Jahren entstand hier Neuallermöhe-Ost, ein Jahrzehnt später Neuallermöhe-West. Es sind Entwicklungen der längst überkommenen Art. Das Auto dominiert den öffentlichen Raum. Die Planer wollten viel Grün und vergaßen die Dichte. Die Häuser wirken eher monoton, Arbeitsplätze im Stadtteil finden sich kaum. „Die öffentlichen Räume sind häufig nicht sehr belebt, die Erdgeschosszonen haben Schwierigkeiten, etwas anderes als Wohnungen unterzubringen“, sagt Stadtentwicklungssenatorin Karen Pein. „Alles hängt miteinander zusammen. Daher haben wir sehr darum gekämpft, unsere Zielzahlen in Oberbillwerder zu halten: 6500 Wohneinheiten und 4000 bis 5000 Arbeitsplätze. Wir brauchen diese kritische Masse.“

Schon vor 100 Jahren sicherte sich die Stadt hier die Grundstücke

Der neue Stadtteil soll vieles besser machen – in Oberbillwerder wie in Allermöhe. Noch liegt das Feld, das Stadt werden soll, wie eine leere Leinwand da, die sich in den kommenden Jahren füllen wird. Sie soll sich in das Kunstwerk Hamburg einpassen, von dem Hamburgs legendärer Oberbaudirektor Fritz Schumacher einstmals sprach. Schon er sah im Rahmen seines Fächerplans entlang der Hamburger Fernverkehrswege genau dort eine große Siedlung vor seinem geistigen Auge. Und schon vor mehr als 100 Jahren sicherte sich die Stadt die Grundstücke.

Nummer 105 wird wirklich anders werden. Neu ist das Verständnis von Mobilität, Mischung und Masse. Und neu ist die Integration der Landschaft in das Viertel. Die Planung liegt bei der städtischen Projektentwicklungsgesellschaft IBA Hamburg. Der frühere Bezirksamtsleiter Kay Gätgens hat die Nachfolge als IBA-Hamburg-Geschäftsführer von Karen Pein übernommen, die zur Stadtentwicklungssenatorin aufstieg.

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Ein Blick in die Zukunft – so kann es aussehen, wenn man aus der S-Bahn-Haltestelle Allermöhe in 15 Jahren tritt © IBA | IBA

Diese Freifläche von 118 Hektar ist ein großer Stadtraum der Möglichkeiten. „Wir bauen ein Stück Stadt mit allem Drum und Dran“, verspricht Gätgens. Es ist eine Stadt, die aus den Fehlern gelernt hat. „Wir werden die Mobilität revolutionieren“, sagt der Geschäftsführer. Die autogerechte Stadt ist Geschichte, die Stadt der kurzen Wege das neue Ziel. Von keinem Ort in Oberbillwerder ist es weiter als 250 Meter zu einem der elf bis 13 sogenannten Mobility Hubs.

Das Konzept der „Mobility Hubs“ will Mobilität neu denken

Hinter dem Begriff versteckt sich eine Art erweitertes Parkhaus – dort stellt man nicht nur sein eigenes Fahrzeug ab oder bucht seinen Mietwagen, dort gibt es zugleich Angebote für den Stadtteil, Servicebüros, Einzelhändler – ein Stadtteilzentrum mit Parkmöglichkeit. Die Dächer der Parkhäuser bieten Raum für Freizeitangebote und Energiegewinnung. Sie sind die Anlauf- und Anfahrpunkte.

Die Mobility Hubs stehen dabei nicht als hässliche Entlein am Rande von Oberbillwerder, sondern an den Quartiersplätzen und sind über Zubringer und die Ringstraße gut erreichbar. So entfällt jeder Parkplatzsuchverkehr, geparkte Autos wird man im öffentlichen Raum nicht sehen, die meisten Straßen gehören den Menschen und spielenden Kindern. „Wir schaffen in Oberbillwerder bemerkenswerte Freiräume, die eine andere Qualität haben, als man sie aus Hamburg kennt“, verspricht Stadtentwicklungssenatorin Karen Pein.

Der Stadtteil soll mit deutlich weniger Autos auskommen

Das Mobilitätskonzept von Oberbillwerder ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. „Wir kalkulieren zunächst mit einem Stellplatzschlüssel von 0,6“, sagt Gätgens. Im Klartext: Drei Autos für fünf Haushalte, weniger als im Hamburger Schnitt von knapp 0,8. Wie viele Stellplätze letztendlich benötigt und gebaut werden, wird dann noch die Erprobung durch die Bewohner zeigen – die Hoffnung ist, dass er weiter sinken kann. Das Ziel ist ambitioniert. Gerade Familien, so zeigen es Zahlen aus Neubaugegenden wie der Mitte Altona, kommen oft auf eine Zahl von 1,5 Autos. 

Noch etwas unterscheidet den neuen Stadtteil von seiner Schwester auf der anderen Seite der S-Bahn. Mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften gibt es einen Ankernutzer im Herzen von Oberbillwerder – 5000 Studenten werden den Campus wie das Viertel beleben und sollen verhindern, dass hier eine bloße Schlafstadt entsteht.

Der Sport wird in Oberbillwerder von Anfang an mitgedacht

Eine zentrale Rolle nimmt der Sport ein – die Active City, als die sich Hamburg versteht, wird erstmals in der Planung mitbedacht. So bekommt Oberbillwerder ein 25-Meter-Schwimmbad. Auch das Parkkonzept bedenkt Bewegung mit. Im Osten des Stadtteils, dem Grünen Quartier, entsteht ein Aktivitätspark; zudem ist ein grüner Loop geplant, der als rund 160.000 Quadratmeter großes Band am Wasser den ganzen Stadtteil durchzieht und die Quartiere verbindet. Diese grünen Räume variieren, sie weiten und verengen sich. Profis modellieren eine Landschaft mit einer Million Kubikmeter Sand; die Wasserflächen übernehmen zugleich die Funktion der Entwässerung und können bei Starkregen Wasser speichern.

Oberbillwerder
Seinen Reiz bekommt der neue Stadtteil durch seine Grünflächen und das allgegenwärtige Wasser: Der grüne Loop verbindet die Quartiere. © IBA | IBA

Insgesamt bilden fünf Quartiere den neuen Stadtteil. Im Blauen Quartier ganz im Westen leben die Menschen direkt am Wasser. Das Gartenquartier am Nordrand präsentiert sich fast ländlich und geht schließlich in Landschaft über. „Mein persönlicher Ansporn ist ein Projekt, wo das eigene Pferd direkt an der Kulturlandschaft auf der Wiese steht. So etwas gibt es in Hamburg noch nicht“, sagte Pein einmal.

Kleingärten und weniger verdichtete Straßen im Parkquartier werden Oberbillwerder eines Tages mit Bergedorf-West verknüpfen. Die Herzkammer wird das zentrale Bahnquartier mit Mehrfamilienhäusern, das als Erstes verwirklicht wird. Es soll all das bieten, was Allermöhe fehlt: urbane Dichte, Cafés, Geschäfte, die Hochschule, die sich etwa mit ihrer Mensa allen öffnet.

Senatorin Karen Pein: „Die Herausforderung lautet, Urbanität zu schaffen“

„Auch die soziale Infrastruktur wird strategisch in den Stadtteil eingepasst“, sagt Gätgens. Es entstehen zwei Grundschulen, ein Gymnasium und eine Stadtteilschule auf einem Campus, ein Berufs- und Bildungszentrum sowie 14 Kitas. Verantwortlich fühlt sich die IBA Hamburg auch für die Erdgeschosszonen, die bis zum Onlinehandel oft Selbstläufer waren. „Die Herausforderung lautet, Urbanität zu schaffen“, sagt Karen Pein. Dies sei nicht einfacher geworden, weil klassische Zentren ihre Bedeutung verloren hätten – ob Kirchen, Bankfilialen oder auch Rathäuser. „Vieles, was historisch das Zentrum ausmachte, ist weggefallen.“ Eine Kirche wird es in Oberbillwerder nicht geben.

Was wird aus Hamburg?
Im Oktober erscheint das neue Buch zur Stadtentwicklung von Matthias Iken. Unter shop.abendblatt.de können sie es vorbestellen. © Ellert & Richter Verlag | Ellert & Richter Verlag

Urbanität lautet die Herausforderung: „Mit einem Erdgeschossmanagement werden wir eine gute Mischung hinbekommen“, verspricht Gätgens. Mit einer angestrebten Zahl von 4000 bis 5000 Arbeitsplätzen wird der neue Stadtteil auch zum Wirtschaftsfaktor, so sind beispielsweise Handwerkerhöfe geplant.

Immobilien Hamburg: Rund 6500 Wohnungen werden in Oberbillwerder entstehen

Auch beim Wohnungsbau mit seinen 6000 bis 7000 Einheiten überlassen die Planer nichts dem Zufall. Mit dem Drittelmix orientiert sich die IBA am Hamburger Erfolgsmodell – einen höheren Anteil an geförderten Wohnungen möchte man hier angesichts der sozialen Durchmischung und der Lehren aus Allermöhe wohl eher nicht. „Wir planen darüber hinaus mit einem hohen Anteil an Baugemeinschaften. Das sind Pioniere mit Innovationskraft, die ein anderes Wohngefühl schaffen“, so Gätgens.

Neue Eigenheime, in grün regierten Bezirken wie Nord schon auf dem Index, wird es in Oberbillwerder in Form von Doppel- und Reihenhäusern geben. Das Reihenhaus ist das Einfamilienhaus des 21. Jahrhunderts. Auf den demografischen Wandel reagieren die städtischen Entwickler mit ihrem Konzept „Wohnen bleiben im Quartier“, das barrierearme oder barrierefreie Wohnungen bereithält. „Wir nehmen diese Angebote bewusst mit rein. Wir denken die Alterung der Gesellschaft mit“, sagt Gätgens. Auch ein junger Stadtteil wird schnell alt.

Nachhaltigkeit und grüne Energien sind Teil der Planungen

Wer heute einen Stadtteil baut, muss Nachhaltigkeit mitdenken. „Der Stadtteil wird so entwickelt, dass er zukunftsfähig ist und dafür neue Wege geht“, sagt der Geschäftsführer: Die Wärmeversorgung soll zu 100 Prozent grün sein und durch Abwärmenutzung aus Abwasser zu beträchtlichen Teilen vor Ort erzeugt werden. Gerade in der Bauphase geht es um Nachhaltigkeit. Das zirkuläre Bauen, das Häuser in Rohstofflager verwandelt, wird in Oberbillwerder Wirklichkeit. Dafür werden alle verwendeten Bauteile dokumentiert, sodass sie im Falle eines Abrisses recycelt werden können.

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Sogenannte Mobility Hubs sollen nicht nur Parkhaus, sondern auch Einzelhandelsstandort und Treffpunkt in Oberbillwerder sein. © IBA | IBA

Die Architektur soll möglichst vielfältig werden, für die zentralen Baufelder wird es Wettbewerbe geben. „Diese Quartiere sollen nach ihrer Lage und Historie aus dem Ort heraus entwickelt werden“, sagt Gätgens, der selbst Architektur studiert hat. Der Durchschnitt im Geschosswohnungsbau liegt im Quartier bei vier Stockwerken, Sprünge nach oben mit bis zu acht Geschossen sollen ein abwechslungsreiches Bild schaffen. „Wir möchten einen Höhenspiel der Dachlandschaften, wir wollen unterschiedliche Fassaden, einen vielseitigen Stadtteil“, sagt Pein.

Oberbillwerder: Das große Versprechen – Leben in der Natur

Das große Plus aber bleibt die Landschaft, das Versprechen von Leben in der Natur – wenngleich eine direkte Verbindung zu den beliebten Boberger Dünen aus Naturschutzgründen unterbleiben soll. Neu und anders ist, dass die Stadt und ihre Planer den Stadtteil gemeinsam mit der Landschaft entwickeln, die Wassergräben werden in die Stadtentwicklung eingewoben. Die Erholung soll vor der Haustür beginnen. So entsteht ein Viertel, dass die Landlust in die Stadt holt und am Ende möglicherweise auch verhindert, dass junge Menschen sich ein Eigenheim im Speckgürtel suchen.

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„Wir werden als IBA Hamburg die Qualität kontrollieren und den gestalterischen Anspruch hochhalten“, sagt Gätgens, der sich an internationalen Vorbildern wie Kopenhagen, Aarhus oder der Seestadt Wien-Aspern orientiert. Doch auch das weite Feld von Allermöhe kann einmal eine Pilgerstätte für Stadtentwickler aus dem In- und Ausland werden. „Wir wollen Maßstäbe setzen. Denn Projekte wie diese gibt es nicht viele“, sagt Gätgens.

Wichtig ist bei der Entwicklung, die Nachbarn und zukünftigen Bewohner immer wieder einzubeziehen. Heute kann noch keiner sagen, wie sich der Stadtteil im Jahr 2040 präsentieren wird: „Wir haben ein robustes Gesamtkonzept, aber die Planung muss flexibel bleiben.“ Denn auch 15 Jahre können in der Stadtplanung eine Ewigkeit sein.