Hamburg. Verfassungsschutzchef Torsten Voß warnt im Abendblatt vor Menschen, die sich still immer weiter radikalisieren und nicht auffallen.
Die Anschlagspläne waren weit gediehen. Ziel war, möglichst viele Besucher des Taylor-Swift-Konzerts in Wien zu ermorden. Aber die österreichische Polizei hat rechtzeitig zugeschlagen, drei 17 bis 19 Jahre alte terrorverdächtige Islamisten sitzen in Haft. Damit richtet sich der Fokus auch auf die Gefährdungslage in Deutschland. So sieht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) eine ernste Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa. Und Hamburgs Verfassungsschutzchef Torsten Voß warnt im Abendblatt-Interview angesichts einer „abstrakt hohen Gefährdungslage“ vor „Menschen, die sich still immer weiter radikalisieren und erst einmal nicht öffentlich in Erscheinung treten.“
Herr Voß, in Wien wollten Anhänger des „Islamischen Staates“ in der vergangenen Woche ein Massaker bei einem Taylor-Swift-Konzert anrichten. Das wurde offensichtlich im letzten Moment verhindert. Wie groß ist die Gefahr islamistisch motivierter Anschläge in Hamburg?
Wir haben nach wie vor eine abstrakt hohe Gefährdung. Konkrete Hinweise auf bevorstehende Anschläge gibt es nicht.
Wie groß ist die Gefahr? 1500 Hamburger Islamisten gelten als „gewaltorientiert“
Sie haben 1800 Islamisten in Hamburg identifiziert, darunter 1500 „gewaltorientierte“, denen Sie ein hohes Maß an Fanatismus unterstellen. Woran genau machen Sie das fest?
In der Gruppe der „gewaltorientierten Islamisten“ finden sich gewalttätige, gewaltbereite sowie gewaltunterstützende oder -bejahende Menschen. Der Begriff ist beim Verfassungsschutz deutlich weiter gefasst als der, den die Polizei verwendet. Wir definieren die Gewaltorientierung insbesondere aufgrund der Zugehörigkeit der Menschen zu bestimmten islamistischen Organisationen wie der Furkan Gemeinschaft oder der Hizb ut-Tahrir.
Die „Gewaltorientierung“ begründet sich bei den meisten der 1500 Islamisten, Jihadisten und Salafisten also nicht in individuellen Vorwürfen, sondern in der Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation?
Sehr oft ja. Wir kennen aber auch gewaltorientierte Einzelpersonen, die keiner Gruppierung unmittelbar zuzurechnen sind. Die Gefahr, die wir sehen, und die besondere Herausforderung, vor der wir stehen, stellen Menschen dar, die sich still immer weiter radikalisieren und erst einmal nicht öffentlich in Erscheinung treten. Einer von ihnen war der Asylbewerber Ahmad Alhaw, der 2017 in einem Supermarkt in Barmbek spontan auf Kunden eingestochen, einen Mann getötet und fünf weitere teilweise schwer verletzt hat. Taten, die von langer Hand geplant waren, konnten wir in der Vergangenheit und in der Gegenwart verhindern. Aber Einzeltäter wie der Afghane, der in Mannheim einen Polizeibeamten erstochen hat, die vorher nicht in Gruppenstrukturen aufgetaucht sind, stellen uns vor große Herausforderungen.
Wo war die Familie, wo waren die Nachbarn, wenn sich einer unbemerkt radikalisiert?
Die Polizei beklagt das Phänomen, dass zunehmend Täter psychisch gestört sind, ihre Taten sind dann nicht vorhersehbar, die Menschen nicht steuerbar.
Auch wir beobachten eine Zunahme psychisch auffälliger Täter wie Alhaw, der sich spontan im Supermarkt ein Messer besorgt, oder den Messerangreifer aus der Regionalbahn in Brokstedt. Wenn diese Täter dann noch „allahu akbar“ rufen, wird dem Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden gern Versagen vorgeworfen, selbst wenn der Täter gar kein Islamist war. Ich frage mich in solchen Fällen: Wo war die Gesellschaft, wo waren die Nachbarn, die Familie, die Betreuer oder die Vereine, die vor diesem Menschen hätten warnen können? Viele Täter – auch rechtsextremistische Mörder – sind sehr wahrscheinlich in ihrer Sozialisation aufgefallen: im Sportverein, bei Freunden. Aber niemand meldet es.
Im Juli hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) mit fünf seiner Teilorganisationen verboten und die Blaue Moschee an der Alster beschlagnahmt. Wie wichtig war dieses Verbot aus Sicht des Verfassungsschutzes, der seit Jahren vor dem IZH gewarnt hat?
Iranische Islamisten wie schiitische Extremisten insgesamt haben eine wichtige Anlaufstelle verloren. Insofern war dieser Schlag wichtig und ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Hamburger Sicherheitsbehörden und die Justiz regelmäßig Erfolge im Kampf gegen Islamisten vorzuweisen haben. So gab es in den vergangenen Jahren zahlreiche Ermittlungsverfahren, Prozesse, Verurteilungen, Ausweisungen von Islamisten und auch Verbote. Wir werden aber iranische Islamisten und die Entwicklung des Islamismus insgesamt als einen Schwerpunkt unserer Arbeit im Fokus behalten.
Verfassungsschutz warnt vor „Tiktok-Islamisten“
Sollten Organisationen wie das IZH oder die Ditib, die aus dem Iran bzw. aus der Türkei gesteuert werden, aus Sicht eines Verfassungsschutzes überhaupt Vertragspartner der Stadt Hamburg sein?
Die Auswahl der Vertragspartner der Stadt gehört nicht zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, sondern obliegt Senat und Bürgerschaft. Wir liefern Informationen zu den Organisationen, sofern uns entsprechende Erkenntnisse vorliegen. Und wir haben über das IZH informiert und gewarnt. Vor gut einem Jahr sind wir auch vom Verwaltungsgericht darin bestätigt worden.
Demonstrierende Islamisten haben auf dem Steindamm die Scharia und ein Kalifat gefordert. Aufgerufen hatte „Muslim Interaktiv“. Was wissen Sie über diese Gruppierung?
Wir können hier durchaus von „Tiktok-Islamisten“ sprechen. Die Gruppierung wurde im März 2020 gegründet und ist in den verschiedensten sozialen Netzwerken aktiv. Sie organisiert aber auch Demonstrationen und versucht dort, aktuelle Ereignisse zu instrumentalisieren. Ideologisch steht Muslim Interaktiv der islamistischen Hizb ut-Tahrir nahe.
Zuletzt ist es still geworden um diese „Tiktok-Islamisten“.
Sie hatten doch ein Ziel erreicht und große Aufmerksamkeit erzielt. Auch wenn Muslim Interaktiv zurzeit nicht auf der Straße auftritt, im Netz findet die Gruppe nach wie vor großen Zuspruch. Der Erfolg beruht auch auf dem getriggerten Opfernarrativ nach dem Motto: Du bist jung, du bist Muslim, du bist hier nicht willkommen, auch wenn du in Deutschland geboren bist. Das verfängt. Unter den Menschen, die auf dem Steindamm demonstriert haben, waren überzeugte Islamisten genauso wie Neugierige oder Menschen, die dazugehören wollten zu der Gruppe dieser sich modern gebenden Pop-Islamisten. Sie fordern das Kalifat, steigen dann aber in ihr 100.000-Euro-Auto.
Sie sind seit zehn Jahren Chef des Hamburger Verfassungsschutzes. Wie hat sich in dieser Zeit die extremistische Szene verändert?
Es sind deutlich mehr Islamisten bekannt geworden und ins Hellfeld geraten. Die Zahl hat sich in den zehn Jahren auf 1800 verdoppelt. Im August 2014 war die Terrormiliz „Islamischer Staat“ sehr aktiv. Es kam zu einer Vielzahl von Ausreiseversuchen aus Hamburg zum IS Richtung Syrien und Nord-Irak, viele Islamisten haben sich zu der Zeit auch zum IS bekannt. Ich habe die Beobachtung der islamistischen Szene in Hamburg deshalb zu meinem ersten Schwerpunkt gemacht, auch deswegen sind die Zahlen gestiegen.
„Rechtsextremismus bedroht die Demokratie“
Und wie hat sich der Rechtsextremismus in den zehn Jahren verändert?
Hier haben sich die Potenzial-Zahlen zwar kaum geändert, aber die Struktur ist eine ganz andere geworden. 2014 war beispielsweise die NPD noch stärker aktiv. Auch die klassische Kameradschaftsszene existiert in Hamburg schon lange nicht mehr. Aber es gibt stattdessen eine Vielzahl von Rechtsextremisten, die im Netz unterwegs sind. Auch durch unsere Internet-Spezialeinheit Rechtsextremismus haben wir Menschen detektiert, die nicht in festen Strukturen, Parteien oder sonstigen rechtsextremistischen Strukturen eingebunden sind. Der Rechtsextremismus hat sich in den vergangenen Jahren von allen extremistischen Ausprägungen am intensivsten ins Internet verlagert.
Der Verfassungsschutz hat zuletzt 390 Hamburger als rechtsextremistisch identifiziert. 150 von denen gelten als „gewaltorientiert“. Das heißt, es gibt ungefähr zehnmal so viele Islamisten. Dennoch sehen Sie im Rechtsextremismus die Gefahr für die Demokratie?
Ich spreche von der Gefahr für die Demokratie und nicht über die Gefahr eines Anschlags. Diese Differenzierung ist wichtig. Man kann das gut erklären anhand der Forderungen nach der Einführung der Scharia und eines Kalifats. Muslim Interaktiv propagiert, das Kalifat sei die Lösung. Aber das wird meines Erachtens in Deutschland niemals passieren. Wenn aber eine erwiesenermaßen rechtsextremistische Partei aktiv in den Demokratieprozess eingreift, vielleicht sogar stärkste Partei wird und in einem Bundesland die Regierungsbildung beansprucht, ist das eine viel stärkere Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung als die Forderung nach einem Kalifat. Solche erwiesen rechtsextremistischen Parteien wirken wie ein schleichendes Gift für unsere Demokratie.
AfD in Hamburg nicht unter Beobachtung
Sie sagen, dass die Gefahr für die Demokratie vom Rechtsextremismus ausgeht. In östlichen Bundesländern wurde die AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. In Hamburg ist das nicht so – warum beobachten Sie die AfD nicht?
Die AfD verfügt über 16 Landesverbände und einen Bundesverband. Der Verfassungsschutz hat den Bundesverband als Verdachtsfall eingestuft – eine Entscheidung, die ich begrüße. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt. Also stellt sich die Frage, ob man die Landesverbände automatisch dafür verantwortlich machen kann, wenn der Bundesverband als Verdachtsfall eingestuft wird. Nach derzeitiger Einschätzung rechtfertigt alleine die Zugehörigkeit zum Bundesverband noch keine Einstufung, sondern es braucht tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen. Und diese Bestrebungen gibt es derzeit in Hamburg nicht. Deshalb können wir die AfD hier – bisher – nicht beobachten. Aber die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern prüfen das Urteil des OVG sehr genau. Wir wollen klären, ob man daraus nicht doch eine Verantwortung der Landesverbände für den Bundesverband ableiten kann.
Der Verfassungsschutz legt seit Jahren einen starken Fokus auf Islamismus und Rechtsextremismus. Spielen Linksextremisten in der Stadt der Flora-Krawalle und der umkämpften Hafenstraße überhaupt noch eine Rolle? Ihre Zahl jedenfalls ist leicht rückläufig, ihre Taten nach G20 wenig spektakulär.
Nach wie vor hat die Rote Flora Signalwirkung für den Linksextremismus in ganz Deutschland. Mehr als 1000 Linksextremisten rechnen wir der Szene allein in Hamburg zu. Das zeigt: Es gibt keinen Grund, bei der Beobachtung der Linksextremisten nachzulassen. Die Strukturen haben sich aber verändert, Teile der Szene sind jünger geworden. Es gibt nach wie vor eine Vielzahl von Events und Örtlichkeiten, wo Linksextremismus in Hamburg stattfindet, zum Beispiel in der Roten Flora, an der Brigittenstraße, im Centro Sociale oder der Sauerkrautfabrik. Und weiterhin sind gewaltorientierte Gruppierungen wie der kommunistische „Rote Aufbau Hamburg“ oder die „Interventionistische Linke“ mit den von ihr beeinflussten Gruppierungen aktiv, darunter „Seebrücke Hamburg“, „Ende Gelände Hamburg“ oder „Hamburg Enteignet e.V.“.
„Neue Eskalationsstufe“ bei Linksextremismus
Kennen Sie Monty Pythons „Das Leben des Brian“? Mit den ständigen Auseinandersetzungen zwischen ähnlich tickenden Gruppen wie der „Judäischen Volksfront“ mit der „Volksfront von Judäa“? Erleben wir gerade bei der Roten Flora etwas Ähnliches?
Der Konflikt innerhalb der linksextremistischen Szene um den Umgang mit Israel und den Menschen jüdischen Glaubens ist nicht neu. Seit Jahren beobachten wir auf der einen Seite die Autonomen und auf der anderen die Antiimperialisten. Antiimperialisten, darunter der „Rote Aufbau“, sind aufseiten der Palästinenser, der überwiegende Teil der Autonomen gilt als israelfreundlich. Diese Sollbruchstelle wurde lange, zum Beispiel 2017 zum G-20-Gipfel, überdeckt von einem gemeinsamen Feind: dem sogenannten „Repressionsapparat von Polizei und Staat“. Der interne Konflikt ist durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober wieder offen ausgebrochen.
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Amüsiert den Verfassungsschutz dieser Streit, wenn Personen aus dem antiimperialistischen Spektrum aus Protest gegen eine pro-israelische Haltung die Rote Flora „besetzen“?
Ich sehe – auch und gerade in der kurzfristigen Besetzung der Roten Flora – eine neue Stufe der Eskalation, von Amüsement kann also nicht die Rede sein. Solange der Konflikt in Israel und Gaza nicht beigelegt ist, wird sich die Schraube nach meiner Einschätzung weiter nach oben drehen.