Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch. Er verteidigt die Reisen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in die Ukraine, nach Russland und China.

Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.

Matthias Iken: Viktor Orbán ist seit wenigen Tagen EU-Ratspräsident. Und schon reist er unabgestimmt nach Moskau und China. Sehen Sie da Perspektiven?

Klaus von Dohnanyi: Orbán fuhr als Ratsvorsitzender der EU nach Kiew, Moskau und Peking, um die Chancen eines Waffenstillstands im Ukraine-Krieg auszuloten. Das wäre doch eigentlich die Verantwortung jedes EU-Ratsmitglieds, mindestens so lange wir diesen blutigen Krieg finanzieren! Haben Orbáns Brüsseler Kritiker denn selber Fortschritte bei der Beendigung des Schlachtens gemacht? Und hat Europa hier keine andere Verantwortung, als den Aggressor Putin anzuprangern und dann, nach den Wünschen der ukrainischen Regierung, alle Verhandlungen abzulehnen? Ein Krieg mitten in Europa, aber die Europäische Union trägt keinerlei Verantwortung dafür, diesen Krieg zu beenden? Als Vorsitzender des Europäischen Rates würde mir diese Zuschauerrolle nicht genügen!

Iken: Darf man mit einem Kriegsverbrecher Verhandlungen führen?

Dohnanyi: Aber klar doch! Die Hamas, zum Beispiel, hat Israel überfallen, Israelis ermordet oder als Geiseln entführt, und Israel führt einen harten und von der Welt sehr kritisch beurteilten Krieg gegen die Hamas und ihre möglichen palästinensischen Unterstützer. Die Hamas gilt heute zudem als eine terroristische Vereinigung. Und doch sieht sich der Staat Israel gezwungen, mit der Hamas über eine Herausgabe der Geiseln und einen möglichen Waffenstillstand direkt oder indirekt zu verhandeln: Wo ein moralisch vertretbares Ergebnis erwartet werden kann, sind Verhandlungen immer berechtigt.

Iken: Wäre es aber nicht klüger, als EU einig aufzutreten?

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Dohnanyi: Aber sicher. Allerdings bleibt Einigkeit der EU in Sachen Frieden mit Russland eine Illusion, denn es gibt in der EU Mitglieder, die jede Verhandlung, ja jedes Gespräch mit Putin ablehnen. Einen gemeinsamen Auftritt der EU in Moskau für Verhandlungen des Ukraine-Themas wird es also nicht geben. Die Russische Föderation ist jedoch Kriegspartei im Ukraine-Krieg, und Putin ist ihr Staatschef. Solange die EU als Ganzes keine Strategie zur Beendigung des Krieges entwickeln kann, müssen eben einzelne Mitglieder diesen Weg mutig gehen. Viktor Orbán ist ein Einzelgänger und war das schon, als er Monate vor dem Fall der Mauer im Juni 1989 mutig und öffentlich den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn forderte. Damals zeigte er einen Mut, den wir alle in der Bundesrepublik nicht aufbrachten: Große Teile der SPD waren sogar gegen die Wiedervereinigung Deutschlands, um die Sowjetunion nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Schon vergessen? Mut konnten wir immer schon von Orbán lernen!