Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch. Er erklärt, warum die Infrastruktur teilweise so marode ist – und was sich ändern muss.

Jede Woche stellt sich der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.

Matthias Iken: Zur EM reiben sich viele Europäer verwundert die Augen, was aus der deutschen Infrastruktur geworden ist. Was ist in den vergangenen Jahrzehnten falschgelaufen?

Klaus von Dohnanyi: Wer die EM in Berlin oder Leipzig besucht, der wird diesen Eindruck wohl kaum haben. Sonst müsste man solchen Besuchern noch einmal die Bilder von Leipzig aus dem Jahr 1990 zeigen. Dann hätten sie nämlich einen realen Eindruck von den Infrastrukturleistungen deutscher Politik. Die Infrastrukturinvestitionen sind nach dem Mauerfall eben im Wesentlichen nach Ostdeutschland geflossen: rund drei Billionen Euro Transfer (hochgerechnet nach Professor Klaus Schroeder, HU Berlin) in das total verrottete Gebiet „DDR“ zwischen Elbe und Oder mit einer Bevölkerung in der Größenordnung der Niederlande! Dann sehe man sich Leipzig oder Berlin heute bei der EM mal an!

Iken: Haben Politiker aber nicht lieber bei der Infrastruktur als bei den Sozialausgaben gespart?

Dohnanyi: Der Aufbau Ost war zugleich das größte sozialpolitische Vorhaben, das die alte Bundesrepublik-West je vollbracht hat – größer auch als das Wirtschaftswunder nach 1945. Ich nannte unser Vorhaben 1990 „das deutsche Wagnis“, weil der Ausgang mir wirklich offen schien: Werden wir jemals ausreichend ökonomische Gleichheit zwischen Ost und West herstellen können, um das Land politisch zusammenzuhalten? Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Entwicklung der AfD in Thüringen, Sachsen oder auch Brandenburg, dann erscheinen mir auch heute noch die immensen Infrastrukturausgaben im Aufbau Ost als angemessen, auch wenn dies zunächst zulasten des Westens gehen musste. Wer am Aufbau Ost persönlich beteiligt war, wusste das immer.

Iken: Was müsste nun im Westen passieren – und wie viel Geduld benötigen wir?

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Dohnanyi: Die Infrastruktur auch im Westen ist viel besser, als manche Berichte es wiedergeben. Unsere historisch so erfolgreiche dezentrale und föderale Wirtschaftsgeografie stellt allerdings auch zwangsläufig besonders hohe Ansprüche. Wir brauchen nun keine Panikreaktionen, sondern strategische Begründungen von Prioritäten: In der Vergangenheit wurde nichts „verbummelt“, sondern die Prioritäten waren eben zwangsläufig zunächst nach Osten gerichtet. Jetzt gilt es, genauso erfolgreich für den Westen zu planen! Ob wir allerdings angesichts der nach meiner Meinung falschen Militarisierung unserer Sicherheitspolitik eine „Priorität Aufbau West“ noch finanzieren können, steht in den Sternen!