Hamburg. 18-Jähriger stirbt nach neun Stunden Narkose. Anästhesist verurteilt, Freispruch für Zahnärztin. Wie das Gericht Entscheidung begründet.

Ohne Medikamente ging schon lange nichts mehr. Die Zahnschmerzen waren kaum noch auszuhalten. Täglich nahm der Hamburger Tabletten, um irgendwie durch den Alltag zu kommen. Nun endlich sollte alles gut werden: eine Behandlung seines schadhaften Gebisses unter Vollnarkose, und das Leid wäre vorbei, die Zähne wieder in Ordnung. Darauf hat der junge Mann gehofft. Doch es kam ganz anders. Er erlitt einen Atemstillstand und starb. Emil (Name geändert) wurde 18 Jahre alt.

„Wir kann es sein, dass im 21. Jahrhundert ein 18-Jähriger nach der Behandlung auf dem Zahnarztstuhl nicht mehr aufwacht?“ Mit dieser Frage macht der Vorsitzende Richter in einem Prozess vor dem Landgericht um den Tod des jungen Hamburgers deutlich, wie schwer die Geschehnisse seinerzeit in einer Zahnarztpraxis nachzuvollziehen sind. Es bleibe angesichts des Versterbens des Mannes eine „gewisse Ratlosigkeit und Traurigkeit zurück“, sagt Richter Matthias Steinmann. Was passiert ist, mache „sehr betroffen. Eine Mutter will ihrem gerade erst erwachsen gewordenen Sohn helfen, ein Leben ohne Zahnschmerzen zu führen.“ Doch statt dessen müsse sie mit dem Schicksalsschlag zurechtkommen, dass ihr Kind tot ist.

Prozess Hamburg: Fast neun Stunden Vollnarkose

Die Verantwortung für den Tod von Emil am 27. Mai 2016 trägt nach Überzeugung der Kammer der Anästhesist, der bei der fast neun Stunden dauernden Zahnarztbehandlung die Narkose setzte und bei deren Überwachung die medizinischen Standards nicht eingehalten habe. 18 Monate Freiheitsstrafe lautet das Urteil der Kammer für den 67-Jährigen, weil dieser sich der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht hat. Anästhesist Daniel R. (Name geändert) sei bewusst gewesen, dass seine apparative und personelle Ausstattung für eine derart lange Narkose unter dem erforderlichen Standard war, hält das Gericht dem Narkosefacharzt vor. Darüber hätte der Patient aufgeklärt werden müssen. Die Strafe setzt das Gericht zur Bewährung aus.

Eine ebenfalls angeklagte Zahnärztin, die an jenem 27. Mai 2016 die Behandlung vorgenommen hatte, spricht das Gericht frei. Die heute 47-Jährige habe damals darauf vertrauen dürfen, dass der Anästhesist die Narkose standardgemäß überwachen würde, heißt es in der Urteilsbegründung.

Richter: „Einschlafen, aufwachen, und die Zähne sind saniert“. So war der Plan.

„Einschlafen, aufwachen, und die Zähne sind saniert.“ Das sei die Vorstellung des jungen Patienten und dessen Mutter gewesen, sagt der Vorsitzende Richter. Doch statt dessen sei der 18-Jährige an Herz-Kreislaufversagen verstorben. Der Auftritt der Mutter im Prozess, die als Zeugin gehört worden war, sei „beeindruckend“ gewesen, betont der Richter. Sie habe habe ruhig, sachlich und ohne jede Belastungstendenz ausgesagt. „Es wurde deutlich, dass Sie an dem unvorhersehbaren Tod Ihres Sohnes nicht zerbrochen sind“, sagt Steinmann an die Adresse der Zeugin. Sie habe „ihr Schicksal angenommen und sich entschlossen weiterzuleben. Dies ist nicht jedem gegeben.“ Die Frau verdiene „große Hochachtung“.

Emil war wegen seiner Zahnarztphobie schon mehrere Jahre nicht in Behandlung gewesen. Weil er ein extrem schadhaftes Gebiss hatte und zunehmend unter Schmerzen litt, überredete ihn seine Mutter, sein Gebiss sanieren zu lassen. Die Bedingung des jungen Mannes: Die Behandlung müsse unter Vollnarkose geschehen. Durch Recherchen im Internet stieß die Mutter auf die Praxis von Dr. Barbara N. (Name geändert) in Altona, die entsprechende Termine anbiete. Emils Mutter hatte vor Gericht geschildert, dass sie bei einem Vorgespräch in der Praxis „ein gutes Bauchgefühl“ gehabt habe, so die 44-Jährige. „Ich habe für mich mitgenommen, wir sind in guten Händen. Man weiß, was man tut.“ Die Zahnärztin habe sie als empathisch empfunden, und der Narkosearzt habe auf seine lange Erfahrung verwiesen und versichert, er werde auf ihren Sohn gut aufpassen.

Mutter des jungen Mannes verdiene „große Hochachtung“

Zahnärztin Barbara N. hatte wegen des stark kariösen Gebisses des jungen Patienten eine Behandlungsdauer von acht Stunden geplant. Tatsächlich wurden es fast neun Stunden. „Das ist keine normale Behandlung, sondern etwas Besonderes“, sagt dazu der Vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung. „Das kommt einem als Laien komisch vor.“ Zumal Narkosearzt Daniel R. weder eine Anästhesieassistentin dabei hatte noch medizinische Apparate für eine maschinelle Beatmung. Damit habe weder die apparative noch die personelle Ausstattung dem damaligen Standard entsprochen.

Ein anästhiologischer Sachverständiger, der im Prozess gehört wurde, hatte erklärt, dass man das zwar so machen könne. Aber man hätte den Patienten darauf aufmerksam machen müssen, dass medinische Standards unterschritten werden. Genau diese Aufklärung sei nicht erfolgt, ist das Gericht überzeugt. Der Narkosearzt habe gewusst, dass er die damaligen Standard unterschritt, habe sich aber darüber hinweggesetzt, weil er gemeint habe, mit seiner Erfahrung könne er trotzdem die vielstündige Anästhesie ordentlich überwachen. „Er fühlte sich den maschinellen Hilfsmitteln überlegen“, sagt der Vorsitzende Richter. „Man kann das machen, aber man muss den Patienten dafür richtig aufklären.“

„Das ist keine normale Behandlung, sondern etwas Besonderes“

Und genau das sei unterblieben. Hätten der junge Patient und seine Mutter gewusst, „dass es standardwidrig kein Personal und keine maschinelle Überwachung gibt, dann hätte die Mutter die Behandlung ihres Sohnes nicht befürwortet“, ist das Gericht überzeugt. Und der 18-Jährige hätte „das getan, was die Mutter ihm geraten hätte.“ Denn wer lasse sich in eine Narkose versetzen, die nicht den medizinischen Standards entspricht? Demzufolge habe im Ergebnis keine wirksame Einwilligung in die Narkose vorgelegen. Für Zahnärztin Barbara N. gelte, dass sich für sie „nicht aufgedrängt“ habe, dass die medizinische Ausstattung des Anästhesisten „nicht dem Standard entsprach“.

Vom Narkosearzt zunächst unbemerkt, hatte bei Emil die Atmung ausgesetzt. Zunächst glaubte der 67-jährige Anästhesist, bei dem am Patienten eingesetzten Pulsoximeter, das die Sauerstoffsättigung des Blutes anzeigt, könnten die Batterien leer sein. Dann hatte der Arzt versucht, mit Medikamenten, die er spritzte, entgegenzusteuern. Schließlich setzte die Zahnärztin einen Notruf ab. Notfallmediziner brachten den 18-Jährigen ins Krankenhaus, wo Spezialisten noch zwei Stunden lang um das Leben des jungen Mannes kämpften. Doch dann wurde dessen Tod festgestellt.

Zahnärztin sprach zum Prozessauftakt von „Tragödie“

Zum Prozessauftakt hatte Zahnärztin Barbara N. gesagt, die Geschehnisse seien eine „Tragödie“ gewesen, die sie nicht habe kommen sehen. Es tue ihr „unendlich leid“, was geschehen ist, hatte die 46-jährige Angeklagte erklärt. Und der ebenfalls beschuldigte Anästhesist Daniel R. (67) hatte gesagt: „Ich habe als Arzt versagt und als Mensch schwere Schuld auf mich geladen.“ Die Staatsanwaltschaft hatte für den Narkosearzt eine Bewährungsstrafe von 18 Monaten gefordert und für die Zahnärztin eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu 250 Euro wegen fahrlässiger Tötung beantragt.

Mehr zum Thema

Das Gericht geht jetzt bei der Verurteilung von Anästhesist Daniel R. von einem minderschweren Fall der Körperverletzung mit Todesfolge aus. Es handele sich um ein „Unglücksgeschehen“, betont der Vorsitzende Richter. Der Mediziner habe einem jungen Menschen, der seit Langem unter Schmerzen litt, „helfen wollen, nicht schaden“. Zudem habe Dr. Daniel R. sein „tiefes Bedauern und Erschütterung deutlich“ gemacht über das, was dem jungen Mann und dessen Angehörigen widerfahren war.

Zugunsten des Angeklagten müsse auch gewertet werden, dass er sich verpflichtet habe, für die kleine Tochter des damals 18-Jährigen eine Entschädigungszahlung von 130.000 Euro zu leisten. Strafschärfend sei zu berücksichtigen, dass es gravierende Mängel bei der narkoseärztlichen Behandlung gegeben habe und ein junger Mensch verstorben ist.