Hamburg. „1165 Minuten Angst“: Richter richtet klare Worte an Angeklagten, der seine Tochter entführt hatte. „Sie wollten sie um jeden Preis.“
1165 Minuten. Die Zeitspanne klingt gewaltig. Und für ein kleines Kind muss sich diese Zeit wohl nahezu endlos anfühlen. 1165 Minuten und 25 Sekunden Angst: So lange hat eine Vierjährige gelitten, nachdem sie von ihrem eigenen Vater entführt und zum Flughafen Hamburg verschleppt wurde. Der 35-Jährige hat seine Tochter mit dieser Tat vollkommen verstört und ihre Mutter zur Verzweiflung gebracht. Außerdem hat er durch seine Gewaltaktion den Airport für rund 18 Stunden lahmgelegt.
Jetzt wurde Mehmet R. (Name geändert) für das Verbrechen vom 4. auf den 5. November 2023 in einem Prozess vor dem Landgericht zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. „1165 Minuten und 25 Sekunden“ habe die Tat gedauert, bis das kleine Mädchen aus seiner furchterregenden Situation befreit war, rechnet der Vorsitzende Richter dem 35 Jahre alten Angeklagten in der Urteilsbegründung vor. „Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vorstellen können, wie Ihre Tochter sich in dieser schrecklichen Zeit gefühlt hat. Dass sie hätte sterben können.“ Doch all dies habe Mehmet R. „nicht interessiert. Sie wollten Ihre Tochter um jeden Preis.“ Der Richter bezeichnet das Verbrechen als „Wahnsinnstat“.
Prozess um Geiselnahme am Hamburger Flughafen: „Sie wollten Ihre Tochter um jeden Preis“
Als er sein Kind aus der Wohnung ihrer Mutter entführte, mit ihr zum Flughafen raste, eine Schranke zum Rollfeld durchbrach und mit einer Bombe drohte, wollte Mehmet R. erzwingen, dass er mit seiner Tochter in die Türkei ausreisen kann. Nach einem rund 18 Stunden dauernden Nervenkrieg gab der Mann schließlich auf.
Mehmet R. habe die eigene Tochter vor dem Hintergrund eines Sorgerechtsstreits als Geisel genommen, eine scharfe Schusswaffe auf die Mutter des Mädchens gerichtet und den Flughafen lahmgelegt, fasst der Vorsitzende Richter das Geschehen zusammen. „Dass nicht mehr passiert ist, ist Folge einer hervorragenden Polizeiarbeit“, betont der Richter. Die Tat von Mehmet R. habe zwar „Appellcharakter“ und sei wohl als Hilfeschrei einzuordnen. Es handele sich allerdings „um Selbstjustiz“. Der Angeklagte sei ein „respektloser Straftäter.“ „Selbstjustiz werden wir niemals dulden und sie hart bestrafen. Das ist auch eine Warnung an alle, die sich nicht an die Gesetze halten.“
Hamburger Richter: „Selbstjustiz werden wir niemals dulden“
Die Strafkammer verurteilt den 35-Jährigen für das Verbrechen vom 4. auf den 5. November 2023 wegen Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger, Körperverletzung und Besitz von Munition. Mit dem Strafmaß von zwölf Jahren folgt das Gericht dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte beantragt, einen minderschweren Fall anzunehmen, jedoch keinen konkreten Antrag für das Strafmaß gestellt.
Während der Urteilsverkündung äußert der Angeklagte mehrfach laut seinen Unmut, redet dazwischen und zeigt sich uneinsichtig. So hat er sich während des Prozesses, der über zehn Verhandlungstage ging, immer wieder präsentiert. Ein Mann, der sich unter allen Umständen Gehör verschaffen will, der auch mit der Hand auf den Tisch schlägt, wenn ihm etwas nicht passt. Bis zum Schluss hat Mehmet R. offenbar nicht verstehen wollen oder verstehen können, dass es in diesem Prozess nicht darum geht, einen Sorgerechtsstreit zu entscheiden, den er mit seiner Ex-Frau um die gemeinsame kleine Tochter hatte. Denn dieser Fall ist längst juristisch geklärt. Ein Familiengericht sprach der Mutter das alleinige Sorgerecht zu. Mehmet R. durfte die Vierjährige demnach einmal im Monat für vier Stunden begleiteten Umgangs sehen.
Flughafen-Geiselnehmer: Angeklagter überlistete seine Ex-Frau und entführte das Kind
Als er am frühen Abend des 4. November 2023 an der Wohnung seiner Ex-Frau in Stade auftauchte, hatte er seine Tochter seit 14 Monaten nicht mehr gesehen. Den Zutritt zu seinem ehemaligen Zuhause fädelte er mit einer List ein. Nachdem seine Ex-Frau im Internet über eine Kleinanzeige ein Kleid hatte verkaufen wollen, hatte er sich unter falschem Namen als vermeintliche Interessentin gemeldet. Vor der Tür verstellte er seine Stimme, woraufhin seine frühere Partnerin arglos die Tür öffnete.
Nun habe er seine Frau sogleich mit einer Schusswaffe, Kaliber 9 mm bedroht und an ihrem Oberarm gezerrt, sodass sie Schmerzen und ein Hämatom erlitt, warf die Anklage dem 35-Jährigen vor. Dann habe er seine Tochter gepackt – die Kleine links, die Waffe rechts –, sei mit ihr nach draußen gestürmt und habe einmal in die Luft geschossen, während die Mutter um Hilfe schrie. Mit den Worten „Ihr werdet mich zum Mörder machen“ sei er dann in einem gemieteten Audi geflohen und zum Flughafen gerast, hieß es in der Anklage. Am Airport fuhr er mit dem Kind auf dem Rücksitz bis zum Vorfeld, parkte neben einer Maschine von Turkish Airlines und forderte, dass man sie beide ausreisen lassen müsse.
„Ich habe dreimal Bomber“: Wie der Angeklagte am Telefon drohte
Die Anklage zitierte die ausgewerteten Telefonprotokolle aus Gesprächen, die Mehmet R. dann über Notruf mit der Polizei führte, mit den Worten: „Ich habe dreimal Bomber…ich bin jetzt Flughafen.“ In einem weiteren Telefonat drohte er demnach unter anderem: „Es gibt Bombe, ich habe auch Bombe, man kann sie auch aus der Ferne sprengen lassen. Wir können alle sterben.“ Schließlich warf der 35-Jährige zwei Molotowcocktails und feuerte zweimal mit der Waffe in die Luft. Beides habe er getan, „um Aufmerksamkeit“ zu erregen, hatte der Angeklagte dazu am ersten Verhandlungstag gesagt.
Bis der Täter schließlich aufgab, waren Tausende Polizisten im Einsatz. Der Flughafen war während der Geiselnahme über etliche Stunden gesperrt, Tausende Passagiere waren betroffen, weil keine Maschine starten oder landen konnte. Dies war auch dem Umstand geschuldet, dass der Angeklagte in die Luft schoss, zwei Molotowcocktails in die Luft warf und vorgab, eine Sprengstoffweste zu tragen. Diese könne auch aus der Ferne gezündet werden, drohte er. Später stellte sich diese vermeintliche Waffe jedoch als Attrappe heraus. Da waren zahlreiche Flugverbindungen allerdings längst abgesagt. Allein der Airport Hamburg hat angekündigt, für die durch die Geiselnahme am 4. November entstandenen Schäden eine halbe Million Euro von Mehmet R. zu verlangen.
Tochter entführt: Dass sie weint, „sieht er gar nicht“
Wie es seiner vierjährigen Tochter während der Geiselnahme erging, ließ ein Video erahnen, das im Prozess gezeigt wurde. Zu sehen war das kleine Mädchen, wie es in der Novemberkälte und bei Regen nur mit einem Kleidchen am Leib aus dem Wagen stieg und ganz eindeutig weinte. Doch das hatte Mehmet R. nicht wahrhaben wollen. „Das sieht er gar nicht“, hatte eine psychiatrische Sachverständige in Bezug auf die Tränen des Mädchens gesagt. Sie hatte den 35-Jährigen als einen „hochgradig narzisstischen, unflexiblen und sehr egozentrischen“ Mann charakterisiert, der sich sehr schlecht in andere hineinfühlen könne. „Er will seine Tochter bis heute zurückhaben“, erläuterte die Sachverständige. Wie es dabei dem Mädchen gehe, sei für ihn im Vergleich zu seinen eignen Bedürfnissen belanglos.
Doch schließlich, nachdem eine Dolmetscherin, assistiert von der Polizei, mit dem Angeklagten über Stunden verhandelt hatte, konnte die Mutter ihre kleine Tochter in die Arme nehmen. Das Mädchen war zumindest körperlich unverletzt. Doch dass die Geschehnisse deutliche Spuren auf der Seele des Kindes hinterlassen haben, macht der Richter in der Urteilsverkündung deutlich. „Sie hat geweint, sie hatte furchtbare Angst. Wir hoffen, dass sie das irgendwann verarbeiten kann.“ Bei der Tat habe Mehmet R. die Empfindungen anderer nicht berücksichtigt. „Es ging Ihnen nicht um das Wohl Ihrer Tochter. Es ging Ihnen nur um sich.“
Hamburger Gericht attestiert Flughafen-Geiselnehmer eine „enorme kriminelle Energie“
Auch die Mutter der Kleinen hat durch die Tat erheblich gelitten, betont der Richter in der Urteilsbegründung. Ein Video, in dem „die markerschütternden Schreie“ von Mehmet R.‘s Ex-Frau zu hören sind, „gibt uns einen Eindruck über die Verzweiflung der Frau“, sagt der Vorsitzende. Die betroffene Mutter befinde sich nach wie vor in psychiatrischer Behandlung.
Dies habe, neben weiteren Folgen der Tat, der Angeklagte zu verantworten. Um sein Begehren durchzusetzen, seine Tochter mit in die Türkei zu nehmen, habe Mehmet R. zudem in egoistischer Weise die Pläne Tausender weiterer Menschen beeinträchtigt. Als er durch seine Handlungen jeden Betrieb auf dem Flughafen stoppte, habe er seine „persönliche Angelegenheit zu einer Angelegenheit ganz Deutschlands gemacht, wenn nicht gar Europas“, verdeutlicht der Vorsitzende Richter. Die Tat, die der Angeklagte begangen hat, offenbare „eine enorme kriminelle Energie“ und habe eine „hochgradige Gefährdung“ für viele Menschen bedeutet.
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Es sei zudem „schwer erträglich, wie Sie Ihre Tochter als Eigentum ansehen“, hält der Richter dem Angeklagten vor. Mit seinen Verbrechen, die von „Rücksichtslosigkeit geprägt“ seien, habe Mehmet R. „das komplette Gegenteil erreicht von dem, was Sie wollten“, macht der Richter deutlich. „Sie haben darum gebeten, dass Sie abgeschoben werden.“ Nach Verbüßung der Strafe werde dies in der Tat so geschehen. „Aber Ihre Tochter bleibt hier.“ Mehmet R. werde sein Kind „vielleicht nie wiedersehen“.