Hamburg. Im Migrationsstreit greift Olaf Scholz durch – und macht damit wohl den Weg für eine Einigung unter den EU-Ländern frei.

Es soll Menschen in Hamburg geben, die im Kanzler Olaf Scholz den Bürgermeister Olaf Scholz nur noch in Umrissen erkennen. Das entscheidungsfreudige und führungsstarke Hamburger Stadtoberhaupt von einst wirkt in Berlin zaudernd und zögernd. Der lösungsorientierte Senatschef scheint sich im schwierigen Dreierbündnis zu verlieren und mehr Paartherapeut für zerstrittene Grüne und Liberale zu sein denn Regierungschef.

Nun aber hat der Sozialdemokrat ein Machtwort gesprochen – und viele Bürger werden rufen: endlich. Und anders als das Machtwörtchen im Streit um den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, das nur dreieinhalb Monate wirkte, dürfte dieses Machtwort nachhaltige Wirkung entfalten. Deutschland macht den Weg frei für eine Verschärfung des europäischen Asyl-Rechts – gegen den Widerstand der Grünen.

Ihr hartnäckiges Nein speist sich aus hehren Motiven, wird aber immer mehr zu einer Belastung für die Republik, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit gar für die Demokratie. Der Aufstieg der AfD ist untrennbar verbunden mit dem Anstieg der Migration und dem diffusen Gefühl, dass der Staat versagt. Darauf sollte verantwortungsvolle Politik nicht nur reagieren, darauf muss sie reagieren.

Es geht um mehr als um die Wahlen in Hessen und Bayern

Es wäre aber zu kurz gesprungen, des Kanzlers Machtwort allein mit den kommenden Wahlen zu erklären. Der SPD droht in Bayern mit Umfragen von neun Prozent und in Hessen, wo SPD und AfD gleichauf liegen, ein Waterloo. Die Niederlage abzuwenden, ist kaum noch möglich.

Aber Scholz richtet sich in der Migrationsfrage nicht nach dem zunehmend von rechts wehenden Zeitgeist, sondern handelt aus innerer Überzeugung. Als Bürgermeister hat er bis 2015 einen viel restriktiveren Kurs gefahren, als es heute ein Sozialdemokrat wagen würde.

Als die sogenannten Lampedusa-Flüchtlinge nach 2013 in Hamburg eine Sonderbehandlung einforderten, blieb der alleinregierende SPD-Senat hart. Die Männer waren wegen des Bürgerkriegs in Libyen nach Italien geflohen und nach Deutschland weitergereist. Manche kamen aus sicheren Staaten, andere hatten bereits ein Asylverfahren in Italien abgeschlossen. Als Gruppe forderten sie ein Bleiberecht. Gegen massive Anfeindungen blieben die Sozialdemokraten hart und pochten auf die Gültigkeit europäischen Rechts – es ist eine Ironie der Geschichte, dass dann eine CDU-Kanzlerin diese Politik 2015 abräumte.

Schon vor knapp zehn Jahren befasste sich Scholz als Bürgermeister intensiv mit Migration

Am 19. März 2014 hielt Bürgermeister Scholz eine vielbeachtete Rede im Thalia-Theater. Er beschrieb so klug wie klar die Chancen der Migration, aber auch ihre Grenzen. „Völlig offene Grenzen nach Europa hätten Konsequenzen, derentwegen Sorgen berechtigt wären“, sagte er. Deutschland könne kein Sozialstaat mehr sein und Europa könne keiner werden, weil der Sozialstaat nicht grenzenlos jedermann unterstützen kann. Europa und Deutschland müssten bei offenen Grenzen die Existenz informeller Siedlungen in und vor den Städten akzeptieren.

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Wer dasselbe noch eineinhalb Jahre später sagte, geriet rasch unter Rechtfertigungsdruck. Das zeigt die Diskursverschiebung in Deutschland. Was die Deutschen dabei aber übersehen – ihr grenzenlos offener Ansatz ist in Europa inzwischen eine exklusive Einzelmeinung.

Die Partner und die EU-Kommission haben darauf gewartet, dass sich Deutschland bewegt und die geplante Krisenverordnung durchwinkt. Der Kanzler hat es verstanden. Wie sagte er in seiner Thalia-Rede: „Wenn Europa eine angemessene Antwort auf die Flüchtlingsströme finden will, kann es das nur gemeinsam und solidarisch tun.“