Hamburg. Bürgerschaft: Rot-grüner Antrag für „offene Kommunikation“ Mitte Mai beschlossen. Gericht hatte eine rechtliche Klarstellung empfohlen.
Der Fall erregte vor mehr als vier Jahren große Aufmerksamkeit und sorgte für Empörung: Die damals 16 Jahre alte Menna F. weigerte sich, im Unterricht an einer Berufsschule in Hammerbrook ihren Niqab abzulegen – eine Vollverschleierung, bei der nur die Augen zu sehen sind. Die Schulaufsicht drohte Mennas Mutter mit einem Zwangsgeld in Höhe von 500 Euro, falls die Tochter den Niqab nicht ablege. Dagegen ging die Mutter juristisch vor und bekam zuerst vor dem Verwaltungs- und dann vor dem Oberverwaltungsgericht Recht. Menna F. durfte den Niqab im Unterricht tragen.
Die Richter gaben der Schulbehörde und der Politik allerdings einen Fingerzeig: Für ein Niqab-Verbot an Hamburger Schulen fehle die Rechtsgrundlage. Mit anderen Worten: Dass Mädchen im Unterricht ihr Gesicht mit entsprechender Kleidung verhüllen, muss im Schulgesetz ausdrücklich untersagt werden. Die Aufregung war nach dem Richterspruch groß: Der damalige Schulsenator Ties Rabe (SPD) kündigte an, er wolle das Schulgesetz schnell ändern lassen, um eine Vollverschleierung im Unterricht zu verbieten.
Vollverschleierung im Unterricht und bei Schulveranstaltungen in Hamburg verboten
Gut vier Jahre später – Rabe ist nicht mehr im Amt – legten die Bürgerschaftsfraktionen von SPD und Grünen einen Antrag vor, der endlich Klarheit und Rechtssicherheit schaffen sollte. Zwar ist der Titel des Antrags, den die Bürgerschaft am 15. Mai beschlossen hat, mit „Gewährleistung der offenen Kommunikation an Hamburger Schulen“ neutral formuliert und vermeidet jedes Reizwort, aber die Botschaft ist dennoch deutlich. „Nur wenn sich Schülerinnen und Schüler untereinander wie auch Schüler und Lehrkräfte gegenseitig ins Gesicht schauen können, ist eine vollständige Kommunikation gewährleistet. Zu einem vollständigen Interaktionsprozess gehört auch die Möglichkeit, die Mimik und Gestik des Gegenübers lesen zu können“, schreiben SPD und Grüne in dem Antrag.
Nach dem Willen von Rot-Grün ist in das Schulgesetz folgender Passus eingefügt worden: „Sie (die Schülerinnen und Schüler, die Red.) dürfen in der Schule und bei Schulveranstaltungen jeder Art ihr Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dies ist zur Erfüllung einer durch Gesetz oder Rechtsverordnung angeordneten Rechtspflicht erforderlich. Ausgenommen von dem Verbot ist das Tragen einer medizinischen Maske bei Vorliegen einer medizinischen Indikation.“ Außerdem könne die Schulleitung aus schulischen oder medizinischen Gründen „zur Vermeidung einer unbilligen Härte im Einzelfall Ausnahmen zulassen“.
Wer gegen das Verbot verstößt, kann vom Unterricht für bis zu zehn Tage ausgeschlossen werden
Aber was ist eine „unbillige Härte“? Laut Antrag sind damit nicht die Belastungen und Gewissenskonflikte einer Schülerin gemeint, die gezwungen wird, im Unterricht ihren Niqab abzulegen. „Hinzukommen müssen ganz besondere Eigenheiten des Einzelfalls, die beispielsweise die betroffene Schülerin in Gesundheit oder Leben gefährdet erscheinen lassen“, heißt es in der Begründung des Antrags. „Die Einführung der Neuregelung soll eng begleitet werden und in Konfliktfällen an individuellen Lösungen gearbeitet werden. Die Neuregelung soll nicht zu einer sozialen Isolation oder Separation einzelner Schülerinnen führen“, heißt es anderer Stelle vorsichtig.
In einem Schreiben an die Schulleitungen hat die Rechtsabteilung der Schulbehörde den Lehrerinnen und Lehrern nun Hinweise gegeben, wie sie in konkreten Unterrichtssituationen mit der Thematik umgehen sollen. Auch die Behörde betont, dass das Verbot der Verschleierung nicht zu einer Isolation einzelner Schülerinnen führen dürfe. „Daher ist es wichtig, die betreffenden Schülerinnen pädagogisch individuell zu betreuen und bei der Umsetzung der Regelung zu begleiten, ggf. auch mit den entsprechenden Eltern Gespräche zu führen. Möglicherweise sind hier auch Beratungsstellen u.a. einzuschalten“, heißt es in dem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt.
In Konfliktfällen können sich Lehrkräfte vom Landesinstitut für Lehrerbildung beraten lassen
„In Konfliktfällen sollte gemeinsam an individuellen Lösungen gearbeitet werden“, heißt es wenig konkret weiter. Lehrkräften wird allerdings „Beratung zur pädagogischen Umsetzung“ durch das Referat Gesellschaft des Landesinstituts für Lehrerbildung (LI) angeboten. Sollten alle Gesprächsangebote scheitern und die Schülerinnen und ihre Sorgeberechtigten sich nicht überzeugen lassen, auf die Vollverschleierung zu verzichten, kommt es zu Sanktionen.
Bei Verstößen gegen das Verbot „können Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen ... ergriffen werden oder ein Bußgeld ... erlassen werden“, heißt es in der Behörden-Mitteilung. „Bei schulpflichtigen Personen dürften als angemessene Ordnungsmaßnahmen wohl nur der schriftliche Verweis sowie der Ausschluss vom Unterricht für bis zu zehn Unterrichtstage oder von einer Schulfahrt in Betracht kommen.“ Bei nicht schulpflichtigen Mädchen droht „die Ordnungsmaßnahme der Entlassung aus der allgemeinbildenden Schule und aus den Bildungsgängen der beruflichen Schulen“.
Die Bürgerschaft hat die Änderung des Schulgesetzes am 15. Mai beschlossen
Das Verbot soll nicht nur im Unterricht, sondern „auch in sonstigen schulischen Veranstaltungen, in Pausen, auf Schulfahrten oder bei der Inanspruchnahme von Ganztagsangeboten“ gelten. Ausnahmsweise dürfen die Gesichter der Schülerinnen und Schüler allerdings auch weiterhin verhüllt sein, wenn im Chemieunterricht das Tragen einer Maske erforderlich ist oder „im Fach Theater oder bei sonstigen schulischen Aufführungen die gespielte Rolle eine Bedeckung des Gesichts erfordert“. Auch bei Karnevalsfeiern gilt die Ausnahmeregelung.
„Gutes Lernen bedeutet immer auch voneinander lernen, und das gelingt am besten mit offener Kommunikation. Dazu gehört auch die nonverbale Seite: Sich offen und zugewandt ins Gesicht zu sehen, ist wichtig für einen gelingenden Austausch und Lernprozess“, hatte Sina Koriath (Grüne), Vorsitzende des Schulausschusses, vor der Einbringung des Bürgerschaftsantrags gesagt. „Offene Kommunikation braucht im Einzelfall einen klaren gesetzlichen Rahmen, auf dessen Grundlage Schulleitungen rechtssichere Entscheidungen zugunsten eines guten Miteinanders treffen können“, sagte Nils Hansen, schulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
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Die Änderung des Schulgesetzes mit dem Verbot der Vollverschleierung tritt am 1. Juni in Kraft. Bei der Umsetzung der Regelung wird es auf das Fingerspitzengefühl der Lehrkräfte und der Schulleitungen ankommen. „Ich hoffe, dass es Ihnen im schulischen Alltag gelingt, Konflikte im Zusammenhang mit den hier angesprochenen Gesichtsverhüllungen zu lösen und damit die Voraussetzungen für ein offenes und vertrauensvolles Miteinander an Ihren Schulen weiterhin sicherzustellen“, schreibt die Leiterin der Rechtsabteilung der Schulbehörde an die Adresse der Lehrerinnen und Lehrer.
Islamwissenschaftler schätzten vor vier Jahren, dass in Deutschland nur etwa 100 bis 300 Frauen eine Vollverschleierung tragen. Der Koran schreibt das Tragen einer Burka oder eines Niqabs nicht vor. Es handelt sich also um eine individuelle Entscheidung der Trägerinnen und deren Auslegung des Korans.