Hamburg. Grundschüler holen in der Hansestadt beim Lesen immer weiter auf. Auch Fünft- und Sechstklässler sollen künftig speziell trainieren.
Es ist 8.50 Uhr. Die Zeigefinger der Kinder der zweiten Klasse ruhen unter dem ersten Wort der ersten Seite des Buchs „Pelle zieht aus“ von Astrid Lindgren. Auf das Kommando „eins, zwei, drei“ lesen alle gemeinsam, die Finger wandern mit, langsam Wort für Wort, Satz für Satz. Besser gesagt: Die Jungen und Mädchen murmeln, die Lehrerin liest laut, deutlich und akzentuiert vor. Das chorische Lesen ist ein zentraler Bestandteil des Lesetrainings, das die Klasse jeden Tag zur festen Zeit 20 Minuten lang absolviert. Kapitel für Kapitel, Buch für Buch, durch das ganze Schuljahr. Das mag banal klingen, hat sich aber als ausgesprochen wirkungsvoll erwiesen.
Das Lesetraining des Projekts „Bildung in Sprache und Schrift“ (BiSS) wird seit dem Schuljahr 2015/16 in Hamburg erprobt. Am Anfang waren es sechs Pilot-Grundschulen. Seit dem 1. Februar dieses Jahres nehmen alle Grundschulen mit den niedrigen Sozialindices 1, 2 und 3 verbindlich an dem Programm teil – 131 Standorte, rund zwei Drittel der Hamburger Grundschulen. Ziel des Lesetrainings, bei dem abwechselnd auch in kleinen Gruppen oder einzeln gelesen wird, ist die Steigerung der Leseflüssigkeit und die Verbesserung des Leseverstehens und damit der Lesekompetenz – ein Schlüssel für erfolgreiche Bildung.
Hamburg: Schüler konnten Lernrückstände trotz Einschränkungen während Corona aufholen
„Die wissenschaftliche Evaluierung des BiSS-Lesetrainings belegt, dass die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler deutlich gesteigert werden konnte und sie ihre Lernrückstände aufholen konnten, sogar trotz zwischenzeitlich massiver Einschränkungen in der Lernentwicklung aufgrund der Corona-Schulschließungen“, sagte Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD) bei der Vorstellung der Ergebnisse der Studie, die das Institut für Bildungsmonitoring und Schulentwicklung (IfBQ) vorgelegt hat.
Eine erste Gruppe von 20 Grundschulen, die auch am Programm „23+ starke Schulen in herausfordernder sozialer Lage“ teilnehmen, konnte ihre Leseflüssigkeit im Laufe der drei Schuljahre 2018/19 bis 2020/21 (Klassen zwei bis vier) deutlich steigern: von 87,1 auf 94 auf einer 100er-Skala, wobei 100 der Normwert ist. Trotz der Schulschließungen während der Pandemie, als der Wert auf 85,5 Punkte absackte, konnte diese Gruppe ihre Leseleistungen insgesamt steigern.
Beim Leseverstehen, das im Rahmen der hamburgweiten Kermit-Tests („Kompetenzen ermitteln“) überprüft wird, ist ein überdurchschnittlicher Fortschritt feststellbar. Von der Lernstandserhebung in Klasse vier zum Kermit-Test in Klasse fünf verbesserten sich die Schülerinnen und Schüler mit BiSS-Lesetraining um 92 von 358 auf 450 Punkte auf der 600er-Skala. Die Vergleichsgruppe ohne Lesetraining verbesserte sich um 61 auf 541 Punkte.
Auch Jungen und Mädchen aus bildungsnahen Elternhäusern profitieren vom Lesetraining
„Der Zuwachs um rund 60 Punkte beim Leseverstehen entspricht etwa einem Schuljahr. Die Gruppe mit BiSS-Lesetraining hat mit einem Plus von 92 Punkten im Laufe eines Jahres einen Lernfortschritt von eineinhalb Jahren erreicht“, erläuterte Britta Pohlmann vom IfBQ. Aus Sicht der Wissenschaftler ist dabei besonders wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler aus Schulen in schwierigen sozialen Lagen ihre Kompetenzlücke gegenüber den Schülern ohne Förderung um 31 Punkte verringern konnten.
Auch bei einer zweiten Gruppe von 52 Schulen, zu der auch Standorte außerhalb des „23+ starke Schulen“-Programms gehörten, waren die Fortschritte signifikant. Im Zwei-Jahres-Zeitraum vom Schuljahr 2019/2020 bis 2021/22 wurde im Rahmen des Tests Kermit 5 ein Zuwachs beim Leseverstehen um 128 auf 498 Punkte gegenüber Kermit 3 gemessen. Das heißt: Auch Schülerinnen und Schüler in durchschnittlichen oder bevorzugten sozialen Lagen profitieren vom täglichen Lesetraining. Die Jungen und Mädchen ohne Lesetraining verbesserten sich im gleichen Zeitraum um 100 auf 545 Punkte. Der Abstand zwischen beiden Gruppen verringerte sich mithin um 28 Punkte.
Schule Hamburg: Besonders groß sind die Lernzuwächse für Kinder mit nicht deutscher Familiensprache
„Besonders große Zuwächse im Leseverstehen sind für die Trainingskinder mit ungünstigen Ausgangslagen wie einem niedrigen sozioökonomischen Status, nicht deutscher Familiensprache und Sprachförderbedarf feststellbar“, sagte Pohlmann. Über das Leseverstehen hinaus wurden im Rahmen der Studie sogenannte Transfereffekte beobachtet: Auch in den Bereichen Rechtschreibung und Mathematik verbesserten sich die Kinder mit Lesetraining.
Beim bundesweiten IQB-Bildungstrend Grundschule konnte sich Hamburg zwar im Bereich „Lesen“ im Länderranking von Platz 14 (2011) auf Platz drei (2021) verbessern. Aber: 17,7 Prozent der Hamburger Jungen und Mädchen lagen mit ihren Leistungen unter dem Mindeststandard, gelten als Risikoschüler und -schülerinnen. Immerhin: Deren Anteil ist gegenüber 2011 um 3,5 Prozentpunkte gesunken. In den von der sozioökonomischen Zusammensetzung vergleichbaren Stadtstaaten lag der Anteil der Risikoschüler im Bereich Lesen mit 27,2 Prozent (Berlin) und 31 Prozent (Bremen) deutlich höher.
Die Grundschulen erhalten 1000 bis 1500 Euro für die Anschaffung von Büchern
Besonders für die Kinder aus eher bildungsfernen Elternhäusern wurde das BiSS-Lesetraining entwickelt und schrittweise ausgeweitet. Jede teilnehmende Schule erhält je nach Größe zwischen 1000 und 1500 Euro zur Anschaffung von Büchern. Um das Lesetraining und den Austausch unter den Lehrkräften zu organisieren, erhalten die Schulen Entlastungsstunden. Das Landesinstitut für Lehrerbildung (LI) bietet Fortbildungen für Lehrkräfte an.
„Entscheidend für den Erfolg ist der verpflichtende Rahmen. An vier oder fünf Tagen in der Woche lesen alle Klassen einer Grundschule zeitlich parallel 20 Minuten lang“, erläuterte Eric Vaccaro, in der Schulbehörde für den Bereich Steigerung der Bildungschancen verantwortlich. Es habe sich als sinnvoll erwiesen, dass die Lesezeiten immer zur gleichen Tageszeit stattfinden, also als „Leseband“ fest in den Stundenplan integriert sind.
Grundschulen in Hamburg: Luxemburg hat Interesse am städtischen Lesetraining
Wissenschaftliche Handreichungen zum Lesetraining gibt es schon länger. „Aber Hamburg hat das Programm konsequent und mit hoher Verpflichtung zum festen Rhythmus ausgeweitet“, sagte Vaccaro. Nachdem der Lernfortschritt der Hamburger Grundschüler im Bereich „Lesen“ offensichtlich auch auf das BiSS-Lesetraining zurückzuführen ist, ist das Interesse anderer Länder gewachsen. „Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin und andere Länder haben unser Modell häufig eins zu eins übernommen“, so Vaccaro. Vor Kurzem sei auch eine Delegation aus der Stadt Luxemburg in Hamburg gewesen, um sich über das Lesetraining zu informieren.
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„Wir wollen nicht lockerlassen“, sagte Schulsenatorin Bekeris. Das Programm soll auch auf die weiterführenden Schulen ausgeweitet werden. In einem ersten Schritt nehmen bereits jetzt 17 Pilotschulen aus dem Programm „23+ starke Schulen“ mit ihren fünften und sechsten Klassen an dem täglichen Lesetraining teil.
Auf freiwilliger Basis können jederzeit weitere Standorte aufgenommen werden. „Wir prüfen außerdem, ob das BiSS-Lesetraining in das neue Bund-Länder-Startchancen-Programm zur Förderung von Schulen mit sozioökonomisch benachteiligter Schülerschaft aufgenommen werden kann“, sagte Bekeris. Dabei geht es vor allem um die Kofinanzierung des Projekts durch den Bund.