Hamburg. Ungewöhnliches Konzept soll Kreativität und Fantasie der Kinder anregen. Wie der Alltag läuft und was eine Pädagogik-Professorin sagt.

Bunte Wände, Kinderlachen und Selbstgebasteltes auf der Fensterbank: Auf den ersten Blick wirkt die Kinderstube Altona wie jede andere Kindertagesstätte auch. „Wir hatten schon ganz viele Kinder hier, und nur wenige haben gesagt: Oh, ihr habt ja gar kein Spielzeug“, berichtet die Leiterin der Kita, Miriam Henke. Denn die Kita hat ein ungewöhnliches Konzept.

Hier gibt es seit den 1990er-Jahren keine klassischen Spielsachen mehr. Statt mit bunten Plastikautos zu spielen, können sich die Kinder aus alten Flaschendeckeln selbst welche basteln. „Man merkt schon einen Unterschied bei Kindern, die neu sind und das erst mal lernen müssen.“ Langeweile kommt selten auf, stellte Henke fest. „Grundsätzlich lernen sie schon echt extrem gut, sich zu beschäftigen und zu gucken: Was machen denn die anderen?“ Das Spielen mit alternativen Materialien soll laut der Kita-Leiterin die Kreativität und Fantasie der Kinder anregen.

Keine Langeweile zu finden: Im bunten Toberaum der Kindertagesstätte können die Kinder ausgelassen spielen.
Keine Langeweile zu finden: Im bunten Toberaum der Kindertagesstätte können die Kinder ausgelassen spielen. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Kinderbetreuung ohne Spielzeug: ein Wagnis der 1990er-Jahre

Angefangen hat alles vor 50 Jahren in einer Garage. Mehrere Eltern schlossen sich damals zusammen und betreuten ihre Kinder dort gemeinsam. Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Pädagoginnen und Pädagogen eingestellt. Mitte der 1990er-Jahre stolperte ein Mitglied des Teams über das Konzept der Spielzeugfreiheit. „Es war eigentlich die Idee, dass das Spielzeug sozusagen in den Urlaub geschickt und in eine Abstellkammer gesperrt wird“, berichtet Henke.

Damals sollte die Idee nur für ein paar Wochen getestet werden. Im direkten Vergleich konnten die Erzieherinnen und Erzieher sehen, dass der Kita-Alltag ohne Spielzeug die Kinder positiv beeinflusst. „Dann fanden sie das soziale Miteinander der Kinder so gut, dass sie gesagt haben: Das lassen wir jetzt ganz weg.“

Beim Basteln werden die Kita-Kinder kreativ. Materialien werden oft von Eltern gespendet oder von der Kita selbst gekauft.
Beim Basteln werden die Kita-Kinder kreativ. Materialien werden oft von Eltern gespendet oder von der Kita selbst gekauft. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Experimente und Bastelprojekte als spielzeugfreie Beschäftigung

Der Alltag der spielzeugfreien Kita wird gefüllt mit Toben, Basteln oder Ausflügen auf den Spielplatz. Einmal die Woche kann sich ein Kind der Gruppe ein Experiment aussuchen, das zusammen mit den Erzieherinnen und Erziehern durchgeführt wird. Dann werden Gerüste aus Spaghetti und Marshmallows gebaut oder Natron-Vulkane mit Essig zum Sprudeln gebracht. Komplett auf bekannte Gegenstände zum Spielen wird allerdings nicht verzichtet. Wenn ein Ausflug auf den Spielplatz ansteht, erklärt Henke, werden auch Kreide und Bälle mitgenommen.

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Mit Gegenständen zu spielen, die nicht nur einen festen Zweck erfüllen, ist laut der Professorin für Kindheitspädagogik, Katrin Alt, sehr sinnvoll. Seit vier Jahren lehrt sie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). „Für die kindliche Entwicklung sind das die wichtigeren Spielgegenstände: die, die vielfach in verschiedenen Spielen genutzt werden können.“ Industriell gefertigte Spielzeuge würden oft nur einen speziellen Zweck erfüllen. Katrin Alt beschäftigt sich in ihrer Forschung viel mit der Sprachentwicklung von Kindern und was den Prozess möglicherweise unterstützen könnte. „Für das Sprachenlernen ist das Spielen ganz essenziell. Da braucht es keine fest definierten Spielzeuge, da sind auch Alltagssituationen sehr gut nutzbar.“

Probleme durch Beobachtung schnell einschätzen können

„Schön ist, dass man sehr gut mitbekommt, wie es den Kindern geht“, reflektiert Kita-Leiterin Henke über den spielzeugfreien Alltag in der Kinderstube Altona. Wenn Kinder sich hinter ihrem Spielzeug verstecken, könne man schwieriger mitbekommen, wie es den Schützlingen geht. „Dann weiß man gar nicht: Ist das Kind einsam oder traurig? Braucht es gerade seine Ruhe oder findet es zum Beispiel gar keinen Anschluss an die Gruppe?“

Die Leiterin der Kita, Miriam Henke, arbeitet seit 10 Jahren in der Kinderstube Altona.
Die Leiterin der Kita, Miriam Henke, arbeitet seit 10 Jahren in der Kinderstube Altona. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Auch Erziehungswissenschaftlerin Alt hält es für wichtig zu hinterfragen, wieso manche Kinder scheinbar nicht spielen wollen oder innerhalb der Gruppe Schwierigkeiten haben. „Es ist sehr sinnvoll, dass die Fachkräfte in der Kita das in den Blick nehmen und sich dann auch über die Gründe Gedanken machen, warum Kinder vielleicht nicht in das Spielen kommen.“ Die Erzieherinnen und Erzieher hätten über das Spielen die Chance, den Entwicklungsstand der Kinder zu beobachten.

Wenn es nicht ganz ohne geht: Kuscheltiere warten in der Garderobe

Manchmal fällt es den Kindern schwer, sich morgens zum Start des Kita-Tages von ihren flauschigen Freunden zu trennen, berichtet Henke: „Stofftiere, die mitgebracht werden, dürfen in der Garderobe warten.“ Am Anfang kann das Konzept der Kinderstube eine Herausforderung sein. Kinder mit vielen Ideen hätten es in der Regel leichter. Schüchterne Neuankömmlinge brauchen oft etwas länger, um sich an die Spielzeugfreiheit zu gewöhnen. Insgesamt jedoch würden die Kinder schnell voneinander lernen, meint Henke.

„Durch den zunehmenden Anstieg der Betreuungszeit spielt die Kita eine wichtige Rolle bei den Entwicklungsprozessen der Kinder“, erklärt die Professorin für Kindheitspädagogik, Katrin Alt. Wichtig sei vor allem, dass die Kinder Freude am Spiel haben. „Die Motivation zum Spielen sollte immer von den Kindern selbst kommen. Wenn sie Freude am Spielen haben, dann lernen sie auch am meisten.“