Hamburg. Bei der Narkose kommt es damals zu Komplikationen. Mutter und Kind schwer geschädigt. Strafprozess gegen Gynäkologen.

Es soll der Beginn eines neuen Lebensabschnitts werden – und ein wunderbares Erlebnis: Die Geburt des ersten Kindes steht für ein Hamburger Ehepaar bevor. Alles ist in Ordnung, die Mutter ist gesund, der Fötus hat sich prächtig entwickelt. Doch dann geschieht bei der Geburt ein ärztlicher Behandlungsfehler, mit schrecklichen Folgen: Die Frau fällt ins Koma, aus dem sie nicht wieder aufwacht. Und der Sohn ist schwerbehindert.

„Ein wirklich tragisches Geschehen“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschelin „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblattes mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher, über diesen Fall aus dem Jahr 1991. „Mir ist das Schicksal dieser Familie immer in Erinnerung geblieben.“

Frauenarzt aus Hamburg begeht Fehler bei Geburt – mit schrecklichen Folgen

Die Frau möchte in einer Klinik in Hamburg entbinden. Zuständig ist ein erfahrener Gynäkologe. Bei der Geburt hat die 32-Jährige sehr starke Schmerzen. Ihr wird nun eine sogenannte Rückenmarkspritze, eine Periduralanästhesie (PDA), verabreicht. Wird eine solche Anästhesie durchgeführt, sind lokal einzelne Abschnitte der Nerven in ihrer Funktion gehemmt, und das Schmerzempfinden der werdenden Mutter ist in bestimmten Regionen gezielt ausgeschaltet. So soll die Geburt erheblich erleichtert werden.

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„Also eigentlich eine segensreiche Erfindung, diese Rückenmarkspritze“, findet Mittelacher. „Vorausgesetzt, es kommt zu keinen Komplikationen.“ Das Problem sei, dass diese Anästhesie „sehr, sehr präzise“ gesetzt werden müsse, erläutert Püschel, „und zwar in den Wirbelkanal. Das Rückenmark ist extrem wichtig – und extrem empfindlich. Bei Verletzungen des Rückenmarks können Lähmungen eintreten. Und die sind dann in der Regel nicht reversibel.“

Geburt im Krankenhaus in Hamburg: Die Patientin erleidet eine Atemlähmung

Die Anästhesie, die eigentlich eine Erleichterung bringen sollte, wurde für Angela Z. (Name geändert) zum Verhängnis. Denn der Arzt, der die Spritze gesetzt hat, machte dabei einen schweren Fehler. Er perforierte mit der Nadelspitze die Rückenmarkshäute und spritzte das Betäubungsmittel direkt an das Rückenmark heran, sodass die Betäubung am Rückenmark nach oben stieg und die Atemmuskeln lähmte. Es kam zu einem Atemstillstand bei der Patientin.

„Atemstillstand?“, fragt Mittelacher. „Das bedeutet doch, dass die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff nicht mehr funktioniert?“ „Das stimmt“, bestätigt Püschel. „Und das hat natürlich fatale Folgen. Es kommt zu schwersten Störungen, Zellen sterben ab, etliche Bereiche des Gehirns werden lahmgelegt.“

Tatsächlich ist die Patientin in ein tiefes Koma gefallen. Es gab praktisch keine Hoffnung mehr, dass sie jemals wieder daraus aufwachen würde. Ihr Gehirn war mehrere Minuten lang ohne Sauerstoff. Und damit war auch ihr ungeborenes Kind unterversorgt. Die Motorik des Jungen, der dann auf die Welt kam, war massiv gestört. Auch das Sprachzentrum war beeinträchtigt. Als Dreijähriger hat er die ersten Schritte gemacht, ist stark entwicklungsverzögert gewesen.

PDA falsch gesetzt: Kind wird bei Geburt durch Sauerstoffmangel geschädigt

Später musste sich der Mediziner, der damals die folgenschwere Anästhesie vorgenommen hat, vor Gericht verantworten. Der Gynäkologe Prof. Dr. Karsten R. (Name geändert) wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt, weil er die Narkose bei der Geburt falsch gesetzt haben soll. Unter anderem habe der erfahrene Chefarzt keine Probedosis gespritzt, mit der die Wirkung des Anästhetikums getestet werden soll.

„,Ich habe in meiner Laufbahn eine Kleinstadt zur Welt gebracht‘, hat der angeklagte Arzt zum Prozessauftakt gesagt“, erinnert sich Mittelacher. „Und es schwang Stolz in der Stimme des damals 53-Jährigen mit. Über die entscheidenden Minuten des verhängnisvollen Tages, in denen aus einer lebhaften Frau ein dahindämmerndes Wesen wurde, sagte der Mediziner: ,Ich erinnere mich nicht, dass ich es anders gemacht hätte, als ich es gelernt habe.‘“

Angeklagter Hamburger Gynäkologe spricht von „anhaltendem Schock“

Ihm sei bewusst geworden, so Prof. Dr. Karsten R., dass etwas nicht stimmte, als seine Patientin im Kreißsaal mit leiser werdender Stimme über Atemnot und Gefühllosigkeit in den Händen klagte. Wörtlich sagte er: „Da habe ich Komplikationen kommen sehen.“ Es sei ein „noch heute anhaltender Schock bei mir“.

Danach verstrich wertvolle Zeit, weil der Mediziner nicht das Notwendige in die Wege geleitet hat: Und das wäre, künstlich zu beatmen. Als Angela Z. das Bewusstsein zu verlieren drohte, verbrachte der Mediziner laut Zeugen stattdessen etwa drei Minuten am Telefon, um einen Narkosefacharzt herbeizurufen. „Warum hat er nicht gleich mit Maskenbeatmung mit Sauerstoff sowie Herzdruckmassage begonnen und die Hebamme zum Telefon geschickt?“, wundert sich Püschel. „Das wäre doch viel sinnvoller gewesen.“

Atemnot bei Patientin: Hamburger Gynäkologe telefonierte, statt zu beatmen

„Genau das hat die damals zuständige Amtsrichterin ebenfalls angemerkt“, sagt Mittelacher. „Die Antwort des Angeklagten wirkte wie ein Eingeständnis, dass auch er nicht unfehlbar ist. ,Ich weiß es nicht‘, flüsterte Karsten R. und hielt seinen Kopf gesenkt.“ Ein Sachverständiger für Anästhesie erläuterte im Prozess, was in so einem Notfall zu tun gewesen wäre. „In dem Moment, wenn die Stimme der Patientin leiser wird, ist eindeutig, dass Atemnot vorliegt“, erklärte der Experte damals.

„Da hätte sofort künstlich beatmet werden müssen. Zehn bis 15 Sekunden, mehr Zeit hat man nicht, sonst kommt unweigerlich der Atemstillstand. Das Wann ist das Entscheidende, das weiß jeder Rettungssanitäter auf der Straße.“ Wenn rechtzeitig beatmet worden wäre, wären die verhängnisvollen Komplikationen „mit Sicherheit nicht aufgetreten“, so der Sachverständige.

Nach Fehler bei Geburt: Mann des Opfers verliert „Urvertrauen in Krankenhäuser“

Auch der Ehemann des Opfers war mit im Prozess, als Nebenkläger und Zeuge. Den Moment, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass es schwere Komplikationen gab, schilderte Manfred Z. (Name geändert) so: „Ihre Frau hat eine sehr schwere Hirnschädigung erlitten“, habe ihm ein Arzt mitgeteilt. „Gehen Sie davon aus, dass sie nie wieder aufwacht.“

Der Zeuge erzählte, das „Urvertrauen in Krankenhäuser“, das er vor dieser Tragödie empfunden hatte, habe sich in Nichts aufgelöst. „Da war der Boden weg“, sagte er und ergänzte voller Trauer: „Es dauert eine lange Zeit, bis man das versteht.“

Prozess in Hamburg: Die Richterin spricht im Urteil von „gravierendem Versagen“

Das Urteil des Amtsgerichts lautete schließlich auf zwei Jahre Freiheitsstrafe mit Bewährung für den Gynäkologen. In der Urteilsbegründung warf die Richterin dem Angeklagten „gravierendes Versagen“ vor. Gleichzeitig entschied die Vorsitzende, dass der Angeklagte 36.000 Mark Geldbuße bezahlen müsse. In der Urteilsbegründung sagte die Richterin, anstatt zu telefonieren, hätte der Gynäkologe „sofort“ mit der künstlichen Beatmung beginnen müssen. Er habe „wertvolle Minuten verstreichen lassen“.

„Ein Detail aus dem Urteil sollten wir noch herausgreifen“, meint Püschel. „Der Mediziner wurde nicht wegen fahrlässiger, sondern wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Das hat für einen Arzt weitreichende Folgen. In diesem Fall würde seine Haftpflichtversicherung nicht für Schadenersatz- und Schmerzensgeld-Zahlungen aufkommen.“

„Das war ja wohl auch einer der Gründe, warum der Mediziner in Berufung gegangen ist“, meint Mittelacher. „Sein Ziel war es, eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung zu erreichen.“

Wachkoma nach Geburt: Hamburger Arzt räumt in Berufungsprozess erstmals Fehler ein

Prof. Dr. Karsten R. sagte zum Auftakt des zweiten Prozesses: „Es sind Ereignisse, die mich aufs tiefste aufgerüttelt haben und mich nicht schlafen lassen. Es ist der, Gau‘ eingetreten, der größte anzunehmende Unfall, wie ich ihn in meiner 27-jährigen Tätigkeit als Arzt nicht kennengelernt habe.“

Ein lähmendes Entsetzen habe ihn in diesem Moment gepackt: „Ich dachte nur noch: Notfall, Notfall, Notfall, Anästhesist, Anästhesist, Anästhesist. Der Wunsch, einen qualifizierten Anästhesisten zu erreichen, hat alles andere überdeckt.“ Der Angeklagte räumte ein, er habe zu spät selber mit den lebensrettenden Maßnahmen begonnen. „Das war mein großer Fehler, den ich auch eingestehen muss.“

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„Bemerkenswert war in diesem zweiten Prozess auch der Auftritt des Ehemannes jener Frau, die seit der Geburt ihres Sohnes im Koma liegt“, erinnert sich Mittelacher. „Manfred Z. zeigte Fotos, die auf erschütternde Weise dokumentieren, was der Behandlungsfehler aus Angela Z. gemacht hat: eine abgemagerte Frau im Wachkoma mit leerem Blick und spastisch verkrümmten Gliedmaßen. Der Mann schilderte aber auch bescheidene Therapie-Erfolge. ,Meine Frau bemerkt Licht und reagiert auf Berührung‘, erzählte er. Er sagte: ,Meine Frau wird noch viele Jahre leben. Und wir werden alles für sie tun, was wir können.‘“

Ehemaliger Chefarzt an Hamburger Klinik muss Geldstrafe zahlen

Das Urteil des Landgerichts lautete schließlich auf fahrlässige Körperverletzung. Der Angeklagte bekam eine Haftstrafe von 18 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zusätzlich musste der ehemalige Chefarzt an einer Hamburger Klinik eine Geldbuße von 75.000 Mark zugunsten des Opfers zahlen.

Bei dem Strafmaß berücksichtigte die Kammer unter anderem die „katastrophalen Folgen“ für die Familie Z. und das „schwere Verschulden“ des Angeklagten, betonte der Vorsitzende Richter. „Außerdem hat er sich nicht persönlich um die Familie gekümmert“, sagte der Richter. „Das ist bitter.“