Hamburg. Prof. Franklin Kopitzsch und Dr. Dirk Brietzke arbeiten seit 25 Jahren an der „Hamburgischen Biografie“ – dem Gedächtnis der Stadt

Ab und zu ruft jemand an und fragt, warum er eigentlich noch keine Erwähnung in der „Hamburgischen Biografie“ gefunden habe. Man spiele ja eine nicht ganz unbedeutende Rolle in der Stadt, heißt es dann, und schließlich umfassen die dicken Bände mehr als 2000 Personen. „Wenn ich ihnen dann erkläre, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, sind sie schnell sehr erleichtert, dass noch kein Text über sie erschienen ist“, sagt Dirk Brietzke und schmunzelt. Denn die exakt 2375 Hamburgerinnen und Hamburger aus den mittlerweile acht Bänden – der jüngste ist gerade erschienen – haben eines gemeinsam: Sie sind alle tot.

Vor einem Vierteljahrhundert erschien der erste Band, viele weitere sollen noch folgen. Wahrlich ein Mammutprojekt, dem sich Prof. Franklin Kopitzsch und Dr. Dirk Brietzke da widmen. Die beiden Historiker sind von Beginn an Herausgeber des Lexikons. Doch damit ist ihre Arbeit nur sehr unzureichend beschrieben: Sie treffen die Auswahl der Persönlichkeiten, die porträtiert werden sollen, suchen geeignete Autorinnen und Autoren, redigieren und lektorieren, und einige Dutzend Biografien haben sie selbst geschrieben. Das alles tun sie ehrenamtlich. Doch nicht nur, dass sie (genauso wie alle Autoren) kein Geld bekommen, sie müssen auch noch Spenden sammeln, ohne die das Projekt nicht zu realisieren wäre. Kurzum: Da sind echte Enthusiasten am Werk.

Buch, in dem keiner stehen will: Mammutprojekt läuft seit 25 Jahren

Der 76-jährige Kopitzsch, seit 2013 emeritiert, und Brietzke (59), der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Uni tätig ist, leiten zusammen die Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte. Fast überflüssig zu erwähnen, dass Kopitzsch auch dafür kein Geld erhält. Wer in das Büro im alten Hauptgebäude der Universität kommt, der sieht allerdings sofort, dass „Arbeitsstelle“ sehr wörtlich zu nehmen ist. Tausende Bücher und Fachzeitschriften sind in den Regalen und vielen Dutzend Stapeln über den Raum verteilt, Berge von Papier türmen sich an jeder freien Stelle. Und den Gast befallen keinerlei Zweifel, wenn Kopitzsch sagt, er wisse ganz genau, was sich wo befinde.

So klischeehaft das nach einer Gelehrtenstube ganz alter Schule auch klingen mag, sollte sich doch niemand davon täuschen lassen, denn natürlich hat auch hier das digitale Zeitalter längst Einzug gehalten. Und ein wissenschaftlicher Elfenbeinturm ist das Ganze schon mal gar nicht. Ganz im Gegenteil. „Unser Anliegen ist es, die historische Forschung über Hamburg einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen“, sagt Kopitzsch. Und so steht die Arbeitsstelle für ausländische Historiker genauso offen wie für private Heimatforscher und jeden interessierten Laien.

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Hamburgische Biografie: Kopitzsch und Brietzke wollen umfassendes Geschichtsbild vermitteln

Das ist letztlich auch die Idee der „Hamburgischen Biografie“. „Wir möchten mit der Auswahl der Porträtierten ein möglichst breites und umfassendes Geschichtsbild vermitteln“, sagt Brietzke. Und deshalb waren es von Beginn an eben nicht nur die „üblichen Verdächtigen“, also die Größen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die aufgenommen wurden. „Alle Epochen, alle gesellschaftlichen Schichten“, formuliert es Kopitzsch. Genau dieses Prinzip macht die Bücher so interessant und facettenreich, weil „bedeutend“ nicht mit „berühmt“ gleichgesetzt wird.

Die kommen selbstverständlich auch vor, so werden im neuen Band etwa Uwe Seeler, die Holocaust-Überlebende Ester Bejarano, der legendäre Wirtschaftssenator Helmuth Kern und die Prostituierte und Streetworkerin Domenica Niehoff gewürdigt. Aber es werden eben auch Unbekannte der Vergessenheit entrissen.

Vegetarische Sozialistin kämpft gegen die Nazis

Zu ihnen zählt die 1906 geborene Erna Mros, Mitglied einer außergewöhnlichen, fast sektenhaften linken Splittergruppe, die bis 1936 konspirativ gegen das nationalsozialistische Regime arbeitete. Zur Finanzierung des „Internationalen Sozialistischen Kampfbunds“ (ISK) und als getarnten Stützpunkt gründete Mros an der Börsenbrücke das „Vega“, ein vegetarisches Restaurant, das erstaunlich gut lief. Dem ISK waren Gleichberechtigung, Kinder- und Tierschutz genauso wichtig wie der Sozialismus – alle Mitglieder mussten aus der Kirche austreten, waren Vegetarier, und die Führung verpflichtete sich dem Zölibat.

Bis 1936 unentdeckt, flog die Gruppe dann doch auf. Mros gelang trotz zwischenzeitlicher Inhaftierung eine abenteuerliche Flucht durch halb Europa und schließlich in die USA. Dort starb sie im Alter von 94 Jahren 2001.

Tragisches Leben eines Wunderkindes

Ebenso faszinierend wie traurig ist die Geschichte des „Wunderkindes“ Emilie Basedow (1769 bis 1840). Die Tochter des Altonaer Pädagogen Johann Bernhard Basedow wurde schon als Kleinkind unterrichtet und gefördert, lernte diverse Fremdsprachen und reiste mit dem Vater durch ganz Deutschland, um Fürsten und Bürgern ihr erstaunliches Können vorzuführen. Dem Vater ging es um den Beweis, dass auch Mädchen zu intellektuellen Höchstleistungen fähig sind.

Er forderte – damals wegweisend –, dass Mädchen eine exzellente Bildung erhalten sollten. Doch ausgerechnet er veranlasste die Heirat der Tochter mit einem Pfarrer, Emilie musste sich den Kindern und dem Haushalt widmen. Im Alter beklagte sie, ihre besten Jahre „nach der hoffnungsvollen Jugend mit fruchtloser Anstrengung verschwendet“ zu haben.

Unter den Porträtierten in den Hamburger Biografien ist auch George Giles

Weitgehend vergessen ist auch George Giles (1810 bis 1877). Er stand immer etwas im Schatten seines engen Freundes William Lindley, dessen Denkmal heute am Baumwall steht und nach dem eine Schule benannt wurde. Die beiden britischen Ingenieure kamen 1834 beziehungsweise 1835 nach Hamburg, wo sie die zunächst nicht realisierte Bahntrasse nach Lübeck planten und dann die erste Bahnstrecke nach Bergedorf (1842), die bald nach Berlin verlängert wurde.

Giles plante die Entwässerung Hammerbrooks, entwarf diverse Brücken und war maßgeblich am Bau der Kanalisation – der ersten in Kontinentaleuropa – und am Wiederaufbau der Stadt nach dem verheerenden Großen Brand 1842 beteiligt. Alles Projekte, die heute nur mit Lindley assoziiert werden, wohl auch, weil Giles 1847 nach England zurückkehrte, wo er 1877 starb.

Das sind nur drei Beispiele der 242 Porträts des neuen Bandes, die verdeutlichen, dass die „Hamburgische Biografie“ mehr ist als ein Nachschlagewerk, sondern auch eine Einladung zum Schmökern.

Buch, in dem niemand stehen will: Hamburger Projekt ist einzigartig in Deutschland

Das Projekt der „Hamburgischen Biografie“ ist durchaus einzigartig. In diesem Umfang und mit diesem langen Atem gibt es in Deutschland nichts Vergleichbares aus anderen Städten oder Regionen. Das ist umso erstaunlicher, als dass es (mit einer Ausnahme) keine öffentlichen Mittel für das Projekt gab und gibt. Lediglich ein Band ist zum Teil mit Geld der Universität finanziert worden.

Ohne die reiche Hamburger Stiftungslandschaft hätte das Projekt längst beendet werden müssen. Die Zeit-, Körber-, und Hermann-Reemtsma-Stiftung etwa haben sich schon beteiligt. 2001 hat die Hamburger Feuerkasse anlässlich ihres 325-jährigen Bestehens einen Band finanziert. Den aktuellen Band ermöglichten auf Initiative der Historiker-Genossenschaft diverse weitere Genossenschaften, der Lions Club Hamburg Alster, die Edeka Bank, die Heinrich Kaufmann Stiftung und Karin von Behr.

Fünf oder sechs Bände soll es vom „Gedächtnis der Stadt“ noch geben

Rund 35.000 Euro werden pro Band benötigt. Denn allein über Verkäufe wäre das Projekt nicht finanzierbar. Der Preis für das 584 Seiten starke Werk ist mit 38 Euro ausgesprochen moderat. „Ohne Spenden würden die Bände so teuer, dass viele sie sich nicht mehr leisten könnten“, sagt Kopitzsch. Doch die „Hamburgische Biografie“ soll ja eben nicht nur in Bibliotheken im Regal stehen.

Ein Abschluss des Projekts liegt noch in weiter Ferne. 2375 Biografien sind in den acht Bänden erschienen. „So rund 4000 könnten es insgesamt werden“, meint Brietzke. Also noch fünf oder sechs weitere Bände. Da in jedem die Arbeit von drei bis vier Jahren steckt, umschreibt „Lebensaufgabe“ also ganz gut, was die beiden Historiker noch vorhaben.