Die Praxis der Kassenärztlichen Vereinigung ist ein Anfang. Um mehr Kinderärzte zu finden, braucht es größere Anstrengungen.

Sind Hamburgs Kinder noch angemessen medizinisch versorgt? Bekommt jedes seine altersgemäßen Vorsorgeuntersuchungen, immer und überall und rechtzeitig die notwendige Behandlung, wenn es fiebert, von Grippe- oder schlimmeren Viren erwischt oder von einem seelischen Tief geplagt wird? Ja, wäre bis vor wenigen Jahren die Antwort gewesen, selbstverständlich. Mittlerweile kommen an dieser Selbstverständlichkeit Zweifel auf.

Die Praxen der Kinderärzte in Hamburg sind wegen der Hochsaison an Atemwegserkrankungen aktuell stark beansprucht. Die Zugänge zu ihnen sind jedoch chronisch verstopft. Es gibt längere Wartezeiten auf Termine und Aufnahmestopps in Praxen. Selbstredend werden Notfälle angenommen, in den Praxen und den Notaufnahmen der Krankenhäuser. Kranke Kinder haben akute Krisen wie jetzt. Und sie haben strukturelle Krisen, wenn sich Allergien zu Asthma auswachsen oder eine Essstörung oder Unlust am Lernen zu einer psychischen Erkrankung. Noch immer sind die Folgen der Corona-Pandemie an denen zu beobachten, für die drei Jahre einen erheblichen Teil ihres bisherigen Lebens bedeuteten.

Kinderärzte in Hamburg: Nöte der Kinder sind Nöte der Eltern

Hamburg hat das maximale, vielleicht sogar optimale Angebot an medizinischen Leistungen für sie zu bieten. Das allerdings ist relativ. Für zu viele Kinder dauert der Zugang zur Versorgung oft zu lange. Die Nöte der Kinder sind die Nöte der Eltern – und umgekehrt. Etwa jeder vierte kleine Patient kommt aus dem Umland. Dort kann man bereits beobachten, wie sich die Akut- zu einer Strukturkrise wandelt. Überall fehlen Ärzte für Kinder und Erwachsene. Die Zahl der Niedergelassenen sinkt, die Babyboomer werden peu à peu zu Rentnern, ausreichender Nachwuchs fehlt.

Man mag schimpfen auf die mutmaßliche Neigung der Generation Z, die Work-Life-Balance in den Vorder- und eine selbstaufopfernde Tätigkeit in einer eigenen Praxis in den Hintergrund zu stellen. Mit all dem Schimpf ist aber noch keine Lösung adressiert.

KV-Praxis in Hamburg-Rahlstedt mit angestellten Ärztinnen

Was die Kassenärztliche Vereinigung jetzt mit der Kinderarztpraxis in Eigenregie in Rahlstedt gründet, kann man bereits als Rückzugsgefecht ärztlicher Selbstständigkeit begreifen. Die KV ist ja eigentlich die Vertretung der Freiberufler, die sich bereit erklärt haben, die Versorgung in ihrem Umfeld sicherzustellen, Notdienste zu machen, die Urlaube abzusprechen. Es wäre allerdings zu früh, das sinnvolle Modell selbstständiger Arzt abzuschreiben. Die angestellten Ärztinnen der KV-Praxis könnten Gefallen an der Arbeit finden und sich um einen eigenen Sitz bewerben. Für viele ist offenbar die Sprunghöhe zwischen einem Angestelltendasein im Krankenhaus und der Praxis auf eigene Rechnung zu gewaltig.

Man muss kein Prophet sein, um angesichts der demografischen Trends eine weitere Einschränkung des medizinischen Angebots vorherzusehen. Die Praxis an der Ecke existiert nur noch in romantisierten Klischees. In weniger attraktiven Stadtteilen werden die Engpässe immer augenscheinlicher. Und nennen wir es beim Namen: Keine Ärztin, kein Arzt geht dauerhaft mit vollem Elan in eine Praxis, die eine Patientenschaft aus sozial schwachen, überwiegend migrantischen Familien hat und wirtschaftlich auf Kante genäht ist.

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Tausende Hamburger Kinder ohne medizinische Versorgung

Das drohende Aus der Billstedter Kinderarztpraxis lässt womöglich Tausende Kinder ohne medizinische Betreuung. Andererseits, so berichten es Kinderärzte, sind gerade Väter und Mütter mit diesem Background so dankbar für eine unkomplizierte medizinische Hilfe, für Unterstützung und Geduld beim Übersetzen mit Google Translator auf dem Handy, für Zuspruch und Zugang zu einem Gesundheitssystem, das erheblich niedrigere Schwellen hat als in anderen Ländern. Kinder in einer Praxis zu versorgen ist deutlich günstiger, als die Folgen chronischer Leiden und unbehandelter Auffälligkeiten im Verlauf der Erwachsenenwerdung zu „reparieren“. Das fängt bei Bewegung und Ernährung an und ist bei Lernhemmnissen noch nicht zu Ende.

Es ist eine Binsenweisheit, dass uns die ärztliche Versorgung erheblich größerer Zahlen an alten und altersbedingt erkrankten Menschen schon in Kürze deutlich mehr kosten wird. Um Nachwuchs anzulocken, verteilen manche Kommunen bereits Landarztprämien. Hamburg wird sich das zum Vorbild nehmen müssen – wo auch immer das zusätzliche Geld herkommt. Die derzeitige Gesetzeslage ist nicht geeignet, in den Stadtteilen, in denen es erforderlich wäre, Haus- und Kinderärzte anzusiedeln. Was die KV in Rahlstedt macht, ist ein sehr guter Anfang. Und doch ist klar: Für die klaffende Lücke einer besseren Versorgung von Hamburgs Kindern ist es ein Pflaster.