Hamburg. Je schwächer die SPD ist, desto weltfremder wird manche Position. Mit dem erleichterten Familiennachzug vergrößert sie das Problem.
Es ist bloß ein Gedankenspiel, aber ein spannendes: Wo stünden die Sozialdemokraten heute, wenn sie die migrationskritischen Thesen des Thilo Sarrazin nüchtern diskutiert hätten, statt sie empört zu verdammen? 2009 hatte der damals noch anerkannte Ex-Finanzsenator der Zeitschrift „Lettre International“ ein seitenlanges Interview über Berlin und Integrationsprobleme gegeben. Vieles davon war nachdenkenswert, Begriffe wie „kleine Kopftuchmädchen“ aber sicher nicht hilfreich. Es kam, wie es heute in jeder Debatte ist: Alle empören sich über einen Text, den niemand liest. Und Thilo Sarrazin begann sich bald zu radikalisieren.
Und so liefen beide auseinander: Sarrazin wurde zum Bestsellerautor, indem er die Folgen der Migration in immer düsteren Farben malte, die SPD hingegen idealisierte Migration zur Lösung vieler Probleme: So sollten der demografische Wandel gemildert, die Wirtschaft angekurbelt und Deutschland bunter, linker, lockerer werden. Vielleicht glaubte man sogar, die langen Schatten des Faschismus im hellen Deutschland zu überwinden. Als 2015 Angela Merkel unter dem Beifall der Medien jede Steuerung der Migration aussetzte, stand die SPD an ihrer Seite.
SPD war viele Jahrzehnte migrationsskeptisch
Was damals vergessen wurde: Bis dahin hatte die Sozialdemokratie einen anderen Kurs gefahren. Helmut Schmidt etwa hielt die Integration verschiedener Kulturen in Deutschland für kaum möglich und hielt die Gastarbeiter-Einwanderung gar für einen „Fehler“. Willy Brandt warnte schon 1973, dass die „Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft“ bald erschöpft sei.
Und Innenminister Otto Schily wollte schon vor 20 Jahren Asylzentren in Afrika. Die drei müssten heute ihren Parteiausschluss befürchten. Der Unterschied: 2009 stand die SPD noch bei 25 Prozent, 2004 sogar bei 30 Prozent – und 1973 lag die Wahl, bei der die SPD bundesweit fast 46 Prozent gewann, nur wenige Monate zurück.
SPD-Parteitag geht auf Distanz zum Kanzler
Inzwischen dümpeln die Sozialdemokraten in Umfragen bei rund 15 Prozent – und nach den jüngsten Parteitagsbeschlüssen dürften es kaum mehr werden. Denn die Delegierten flüchteten vor der harten Realität ins Wolkenkuckucksheim: Sie unterstützen die umstrittene Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und fordern die Erleichterung des Nachzugs von Familienangehörigen von Flüchtlingen. Beim Thema Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer geht der erfolgreiche Antrag auf Distanz zum eigenen Bundeskanzler Olaf Scholz.
Das alles sind nachvollziehbare und humanitäre Forderungen. Aber sie wirken wie aus einer Parallelwelt angesichts der Rekordzuwanderung nach Deutschland, die immer mehr Probleme schafft: Es fehlen Wohnungen, Jobs, Kita- und Schulplätze, Integrationsangebote. Schon vor zwei Monaten warnten drei Hamburger SPD-Senatoren im Abendblatt: Die Grenze ist erreicht, so kann es nicht weitergehen. Spät, viel zu spät ist dann Innenministerin Nancy Faeser umgeschwenkt.
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Wo die SPD in der Mitte regiert, bleibt sie stark – nur im Saarland kommen die Sozialdemokraten auf Zustimmungswerte wie in Hamburg. Auf den Parteitagen aber führen oft Landesverbände das Wort, die inzwischen mit der Fünfprozenthürde kämpfen wie in Sachsen oder Bayern. Sie ignorieren, dass die rechtsradikale AfD inzwischen in der Hälfte der Bundesländer vor der SPD liegt.
Das Drama der SPD könnte darin bestehen, dass vielen das Programm wichtiger ist als die Wirklichkeit – und sich die Realität gefälligst am Parteiprogramm orientieren sollte und nicht umgekehrt. Das ist ein schöner Traum. Nur könnte er im Albtraum enden.