Hamburg. Richterin begründet Strafmaß gegen „Telegram-Emir“ und Komplizen mit Turbo-Radikalisierung. So fiel das Urteil aus.
Es ist etwas passiert in den vergangenen vier Monaten. Das kann man schon auf dem ersten Blick erkennen, wenn man in Saal 288 am Hanseatischen Oberlandesgericht die beiden Angeklagten auf ihren Plätzen sieht. Der eine (Etrit P.) hat im Vergleich zum Prozessauftakt im Juni die langen Haare abgeschnitten, der andere (Schamsudin M.) hat sich die Seiten akurat rasieren lassen. Auch die Vorsitzende Richterin Ulrike Taeubner attestiert den beiden eine positive Entwicklung.
Doch ihr Urteil gegen die mutmaßlichen Teenager-Islamisten, das sie direkt zu Beginn der Verkündung ausspricht, ist deutlich: drei Jahre und sechs Monate Jugendstrafe für Etrit P. und drei Jahre und drei Monate Jugendstrafe für Schamsudin M.
Anschlag geplant: Richterin bezeichnet Angeklagte als „Überzeugungstäter“
„Das Verfahren ist geprägt von Ihren Geständnissen“, erklärt die Richterin in ihrer Urteilsbegründung – und fragt in den Raum: „Aber welcher Wert hat ein Geständnis bei jemanden, der eine Tat aus einer bestimmten Gesinnung begeht? Insbesondere der Gesinnung, sogenannte Ungläubige töten zu wollen ...“
Das ursprünglich auf elf Prozesstage angesetzte und am Ende 13 Prozesstage andauernde Staatsschutzverfahren gegen die beiden heute 17- und 18-Jährigen, das bis auf den Auftakt und die Verkündung unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wurde, ist eine Art Lehrbeispiel, wie schnell sich Jugendliche mitten in Deutschland radikalisieren können. Richterin Taeubner nennt die beiden Angeklagten, die sogar einen Selbstmordanschlag geplant haben sollen, „Überzeugungstäter“, die sich 2022 innerhalb von wenigen Monaten „extrem radikalisiert“ hätten.
Schamsudin M., der binnen weniger Wochen zu einem sogenannten „Telegram-Emir“ wurde, hat die Richterin in sechs Anklagepunkten, darunter die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, für schuldig befunden. Etrit P. wurde vor allem die Vorbereitung einer „schweren Gewalttat“ vorgeworfen. Beide hörten sich die Vorwürfe nahezu regungslos an.
Angeklagter nannte Enthauptungsvideo „mein Lieblingsvideo“
Schamsudin M. aus Bremerhaven soll erstmals im Januar 2022 mit islamistischem Gedankengut in Berührung gekommen sein, ehe er nur vier Monate später den Zusammenschnitt einer Enthauptung im Irak mit dem menschenverachtenen Kommentar „mein Lieblingsvideo“ und die Verbrennung von vier „Ungläubigen“ bei lebendigem Leib mit der Frage „Wollt ihr hier verbrannte Chicken sehen?“ über Telegram verbreitete.
Der zwei Jahre jüngere Etrit P. aus Iserlohn soll wenig später in derselben Chatgruppe von einem Anschlag auf eine Polizeiwache, eine Kaserne oder eine Behörde geträumt und M. bei den schwierigen Plänen um Hilfe gebeten haben. „Sie haben die menschenverachtende Ideologie des IS verinnerlicht“, sagt die Richterin und ergänzt, dass die Eltern, die beide bei der Verhandlung anwesend waren, nicht mehr zu ihm durchgedrungen seien.
Angeklagter absolviert Aussteigerprogramm für Islamisten
Allerdings lässt die Vorsitzende Richterin auch nicht unerwähnt, dass beide Angeklagte geständig gewesen seien und ernsthafte Reue gezeigt hätten. „Das lässt uns hoffen“, sagt sie und berichtet, dass Schamsudin M. in der Untersuchungshaft mit Legato, einer Fach- und Beratungsstelle für religiös begründete Radikalisierung, zusammengearbeitet habe. Etrit P. habe gute Ansätze durch API, einem Aussteigerprogramm für Islamisten in Nordrhein-Westfalen, gezeigt.
Beim verkündeten Strafmaß habe vor allem der erzieherische Ansatz im Vordergrund gestanden, sagt die Richterin. Die Jugendstrafen seien ausreichend, aber auch angemessen. Das vorrangige Ziel sei nun eine Deradikalisierung. „Sie selbst haben es in der Hand, wie lange die Strafen tatsächlich vollzogen werden müssen.“
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Das Urteil wurde auch von der Hamburger Politik mit großer Spannung erwartet. Seit Monaten wird vor einem Anwachsen der islamistischen Szene auch in der Hansestadt gewarnt. Als Beweis hierfür dient auch der aktuelle Verfassungsschutzbericht, dem zufolge im Jahr 2022 insgesamt 1755 Personen in Hamburg dem Islamismus zugeordnet werden, von denen 1450 als gewaltorientiert gelten. Aufgrund der Gefahrenlage wurde gerade erst sogar eine neue „Internet-Spezialeinheit“ im Kampf gegen den Islamismus beim Hamburger Verfassungsschutz gegründet.
Terror: Angeklagter wollte Sprengstoffgürtel per Online-Anleitung bauen
Wie schnell die graue Theorie zur gefährlichen Terror-Praxis werden kann, kann man am Montagvormittag am Oberlandesgericht hören. Dort schildert die Vorsitzende Richterin noch einmal sehr eindrucksvoll, wie offenbar Schlimmeres nur dadurch verhindert werden konnte, dass es der Angeklagte Etrit P. nicht schaffte, einen Sprengstoffgürtel mittels Online-Anleitung selbst zu bauen. Auch sein anschließender Versuch, sich „ein möglichst stabiles Messer“ zu besorgen, ging ins Leere.
„Sie waren fest entschlossen, einen Anschlag in Deutschland zu begehen“, sagt die Richterin, die ihren 27-minütigen Vortrag mit einer Hoffnung schließt: „Gehen Sie den nun begonnenen positiven Weg weiter und arbeiten Sie an sich.“