Ein Vierteljahrhundert kümmerte sich Schwester Petra in der City um Obdachlose. Nun wird sie 80 Jahre alt – und hört wirklich auf.

Nur einmal, sagt sie, sei sie morgens nicht in ihr Auto gestiegen und von der Danziger Straße zum Gerhart-Hauptmann-Platz gefahren. Im Radio hatten sie vor heftigem Sturm und gefährlichem Glatteis gewarnt. Also gab es an diesem eisigen Wintertag für die Obdachlosen in der Innenstadt von Hamburg keinen heißen Kaffee, keinen dampfenden Tee und keine belegten Brötchen von Schwester Petra. Es war das einzige Mal in den vergangenen 25 Jahren.

So lange ist die Frau mit der prägnanten Ordenstracht, dem gütigen Gesicht, dem großen Herzen und dem offenen Ohr für die Caritas schon auf den Straßen Hamburgs im Einsatz. Für viele gehört sie längst zum Stadtbild. Eine In­stitution. Eine etwas andere Straßensozialarbeiterin.

Christian steht mit einem Becher Kaffee neben dem VW Caddy, auf dem in großen roten Buchstaben steht: Mobile Hilfe, Caritas, Ambulante soziale Betreuung­ für Obdachlose. „Schwester Petra sagt jedem, was sie denkt“, sagt er. „Im Gegensatz zu manch anderem Sozialarbeiter muss sie sich nicht vorsichtig anbiedern. Sie ist immer direkt und ehrlich. Das mag vielleicht nicht jeder, aber bei ihr weiß man immer, woran man ist.“

15.550 Brötchen und 4000 Liter Kaffee und Tee pro Jahr

Zuerst versorgte Schwester Petra zusammen mit ehrenamtlichen Ärzten die kranken Obdachlosen unter den Brücken in Hamburg, zwei Jahre später erbrachte der Erlös eines Benefizkonzertes im Michel 22.000 Mark. „Davon wurde dieser VW Caddy gekauft“, erzählt sie, während sie nebenbei immer wieder Kaffee nachfüllt und einen kurzen Plausch mit den Wartenden hält.

Ein Caritas-Mitarbeiter baute den Wagen so um, dass sie hinten aus zwei größeren Kanistern wahlweise heißen Kaffee und Tee ausschenken kann. Daneben sind eine Ablage für die belegten Brötchen, für Milch und Zucker sowie ein kleiner Schrank mit Schubladen. Als Schwester Petra 2010 das Bundesverdienstkreuz bekam, haben sie bei der Caritas ausgerechnet, dass sie jährlich rund 15.500 Brötchen schmiert und etwa 4000 Liter warmen Kaffee und Tee ausschenkt.

Petra tritt mit 19 Jahren in die Gemeinschaft der Liebfrauenschwestern ein

Es ist der 3. Februar 1940, fünf Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als die kleine Petra in Helte bei Meppen, knapp 20 Kilometer von der holländischen Grenze entfernt, geboren wird. Sie ist das achte (und letzte) Kind des Landwirtes Heinrich Schulte und seiner Frau Maria. Im Dorf leben 316 Menschen. „Wir hatten eine kleine Landwirtschaft.“

Sie besucht die Volksschule in Melle, danach die Landwirtschaftliche Berufsschule und tritt mit 19 Jahren in die Gemeinschaft der Liebfrauenschwestern ein. „Aus Liebe zu Gott“, sagt sie. „Das war eine Berufung. Ich habe einfach gespürt, dass er mich ruft.“

Seit 1992 arbeitet sie in Hamburg

Dass er sie ruft, damit sie anderen hilft. Menschen in Not. Familien, in denen die Mutter zu krank ist, um den Alltag zu schaffen. Schwester Petra legt das Ordensgelübde ab, erst die erste und dann die ewige Profess, und entscheidet sich für ein Leben in dieser karitativ-apostolischen Gemeinschaft im Bistum Osnabrück, deren Leitbild lautet: Die Liebe Christi drängt uns zum tätigen Dienst an den Menschen in Not.

Sie macht eine Ausbildung zur staatlich geprüften Wirtschafterin in Paderborn, holt ihren Realschulabschluss nach, lernt Familienpflegerin in Bad Wildungen, arbeitet in Münster, Hagen und seit 1992 schließlich in Hamburg. „Als mich der damalige Weihbischof Hans-Jochen Jaschke gefragt hat, ob ich in der Obdachlosenhilfe arbeiten wolle, habe ich sofort zugesagt.“

Geleitet sei sie von einem Ausspruch Mahatma Gandhis: „Fragt dich ein Hungernder: Wo ist Gott?, dann gib ihm Brot und sage: Hier!“

Der Einsatz von Schwester Petra ist beispiellos

Welche Eigenschaften braucht man für diese Arbeit? „Man muss zuhören können, aufmerksam und hilfsbereit sein – und humorvoll.“ Dann fassten die Menschen Vertrauen und fingen irgendwann an zu erzählen. Wie es sich anfühle, auf der Straße zu leben. Und wie es dazu gekommen sei. „Das sind jedes Mal intensive und auch schöne Gespräche.“

Schwester Petra ist sozusagen der einfachste Einstieg in das Hilfesystem der Stadt. „Mit ihrer Geduld und ihrer Menschlichkeit trägt sie zu unserem sozialen Frieden bei“, sagt Caritas-Sprecher Timo Spiewak. Ihr Einsatz sei beispiellos, fast grenzenlos, vom Glauben getragen und gebe auch allen Mitarbeitern in der Caritas Zuversicht und Lebensmut.

70, 80 Obdachlose kamen früher pro Tag zu ihr

Viele Menschen in Not würden nur sehr zaghaft Hilfe annehmen. „Schwester Petra unterstützt diese ersten Begegnungen sehr behutsam, indem sie sich weit zurücknimmt. Häufig dauert es wochenlang, bis die sehr scheuen Obdachlosen ihr Herz bei Schwester Petra ausschütten und dann weitergehende Hilfsangebote annehmen können.“

Früher, erzählt sie, seien pro Tag 70, 80 Obdachlose zu ihr gekommen. Von montags bis freitags, vormittags und nachmittags jeweils eine Stunde. In den letzten Jahren seien es etwas weniger geworden. Seit zwei Jahren ist sie nun noch von montags bis donnerstags, vormittags von 10 bis 11 Uhr im Einsatz.

Im normalen Leben würde man das wohl Altersteilzeit nennen, die sie mit 78 (!) Jahren angetreten hat. An ihrem Tagesablauf hat sich allerdings nicht sehr viel geändert. Sie steht jeden Morgen um halb fünf auf. „Meistens wache ich sogar auf, bevor der Wecker klingelt.“ Sie wolle nicht so gehetzt in den Tag starten.

Touristen schenken ihr manchmal Blumen

Um 7.30 Uhr ist der tägliche Gottesdienst im Ansgar-Haus neben dem Mariendom. „Ohne das Gebet würde ich meine Arbeit nicht machen können. Das ist meine Tankstelle.“ Anschließend geht sie zum Frühstück. Die Brötchen für die Obdachlosen hat sie oft schon vorher geschmiert.

Kurz vor zehn Uhr lädt sie die Lebensmittel in ihr Auto, setzt sich hinter das Steuer und fährt in die Mönckebergstraße. Natürlich fährt sie den Wagen noch selbst. Sie ist schließlich seit Jahrzehnten unfallfrei. „Bis auf so ’n paar kleine Schubser.“

Ein älterer Herr kommt vorbei, streicht ihr kurz über den Arm und sagt: „Sie sind ein wirklich guter Mensch, das muss mal gesagt werden.“ Schwester Petra lächelt ihm hinterher. Ja, sagt sie, sie erfahre schon sehr viel Dankbarkeit. Oft spüre man das nur, ab und an zeigten es ihr die Menschen aber auch ganz direkt.

Sie erzählt von einzelnen spontanen Geldspenden. Und von Touristen, die sie manchmal eine geraume Zeit aus der Entfernung beobachten und dann plötzlich mit einem Blumenstrauß vor ihr stehen und sich dafür bedanken, dass da jemand ist, der die Nächstenliebe jeden Tag ganz praktisch lebt.

"Hamburg ist wohlwollend seinen Bürgern gegenüber“

Tut Hamburg genug für die Menschen, die am Rande leben? „Ich finde schon“, sagt Schwester Petra. Hamburg sei „sehr offen und wohlwollend seinen Bürgern gegenüber“. Die Stadt tue, was sie kann. „Und alle wollen sich ja auch gar nicht helfen lassen, das kann immer sehr verschiedene Gründe haben.“

Als wäre es so abgesprochen, kommt in diesem Moment Falko Droßmann vorbei. Der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte gehört als Protestant zwar „zur anderen Fraktion“, aber er hat größten Re­spekt vor der Lebensleistung von Schwester Petra. Er nimmt sie in den Arm: „Vielen Dank für die vergangenen 25 Jahre.“

Für Schwester Petra geht es zurück nach Belm

Für Schwester Petra zählt ohnehin der Mensch allemal mehr als die Institution. „Kirche fängt doch bei jedem an. Wenn man also die Kirche erneuern will, muss man bei sich selbst anfangen, anstatt über die Institution zu schimpfen.“ Egal wo man stehe, ob oben oder unten, müsse man versuchen, etwas Positives in der Gesellschaft zu bewirken. Dass nun wirklich Schluss sein soll, ist ihr eigener Entschluss.

Das heißt, nicht ganz. „Der Herrgott zeigt mir, wann es Zeit ist, kürzerzutreten.“ Wie er das gemacht hat? Schwester Petra lächelt, zeigt auf ihre beiden Gehstöcke und sagt: „Der Rücken.“ Nun geht es zurück nach Belm bei Osnabrück in den Kreis der Ordensschwestern. Würde sie alles noch einmal genauso machen? „Ja“, sagt sie sofort. Sie habe so viel Wohlwollen und Dankbarkeit bekommen. „Ich hatte eine wunderbare Aufgabe in Hamburg. Es gab nicht einen einzigen Morgen, an dem ich gedacht habe, heute würde ich lieber mal zu Hause bleiben. Nicht einen einzigen.“

Ein Tag ohne Schwester Petra? Unverstellbar für einige

Fritz kommt vorbei, holt sich einen Kaffee und lässt sich zwei belegte Brötchen einpacken. Er kennt Schwester Petra­ seit mehr als 15 Jahren. „Ich bin 2003 nach Hamburg gekommen, da war sie schon da.“ Er kann sich einen Tag ohne Schwester Petra nicht vorstellen. Auch wenn er es ihr von Herzen gönnt, dass sie nun mehr Ruhe und Zeit für sich hat. „Die Stadt sollte sich überlegen, diesen Platz hier nach ihr zu benennen.“

Das wäre wohl das Letzte, was Schwester Petra wollte. Schon das lange Gespräch mit dem Abendblatt-Reporter und vor allem das Foto dazu hat sie nicht wirklich gebraucht. Genau wie die Feierlichkeiten, die in der kommenden Woche zu ihrem Abschied und dann zu ihrem 80. Geburtstag geplant sind. „Das könnte auch ausfallen“, sagt sie. Und lächelt wieder.