Hamburg. Er führt seit 2014 den FC St. Pauli, manchmal auf unkonventionelle Art. Er gab dem Verein schon vor 20 Jahren sein Herz.

An Selbstironie mangelt es Oke Göttlich ganz sicher nicht. „Ich bin dieser komische Präsident des FC St. Pauli“ – so stellt sich der 41-Jährige gelegentlich vor und muss dann meist auch selbst ein wenig schmunzeln. Irgendwie hat er auch recht mit dieser Selbsteinschätzung. Komisch ist es ja schon, wenn er sich als vermeintlich oberste Führungskraft bei einem Auswärtsspiel seines Vereins in einer Fankutte irgendwo auf der Tribüne tummelt, anstatt im Anzug auf dem für ihn reservierten Platz des VIP-Bereichs zu sitzen, um von dort aus das Geschehen auf dem Rasen zu verfolgen. Komisch ist dies aber eben nur im Sinne von ungewöhnlich, nicht aber im Sinne von witzig oder gar lächerlich.

Wer sich an frühere Präsidenten des FC St. Pauli erinnert, kommt schnell auf den altväterlichen Heinz Weisener, jenen Patriarchen, der einen Teil seines als Architekt erworbenen Vermögens immer wieder in den Verein steckte. Oke Göttlich ist heute so etwas wie der Gegenentwurf zu Weisener. Dabei sind Alter und Kleidung noch die unwichtigsten Unterschiede, vielmehr hebt er sich in seiner Art der Amtsführung ganz deutlich ab, nimmt sich selbst nicht so wichtig und hat sich auch nicht gescheut, schon in seinem ersten Amtsjahr starke Persönlichkeiten wie Ewald Lienen und Andreas Rettig in den Millerntorclub zu holen. „Der Präsident ist in der Hierarchie zwar weit oben angesiedelt, ist aber trotzdem den Mitgliedern und seinen Teams aus Mitarbeitern und Gremien gegenüber verpflichtet“, sagt Göttlich dazu.

Alles ist hier ein bisschen anders

Das ist die Realität beim FC St. Pauli, der trotz eines Gesamtumsatzes von inzwischen mehr als 40 Millionen Euro weiterhin als eingetragener Verein und nicht als Kapitalgesellschaft geführt wird. Das aus fünf Personen bestehende Präsidium arbeitet ehrenamtlich, sein Geld verdient Oke Göttlich als Geschäftsführer des von ihm gegründeten Musikvermarkters Finetunes. Alles ist am Millerntor doch noch immer ein bisschen anders, als man es im heutigen, kommerzgeprägten Profifußball gewohnt ist. Die Mitgliederversammlung ist laut Satzung das höchste Gremium des Clubs, darunter kommt der Aufsichtsrat, dann erst das Präsidium.

Bis vor drei Jahren war auch Oke Göttlich nur einfaches Mitglied des Stadtteilvereins, allerdings ein sehr engagiertes, diskussionsfreudiges, das sich in der Fanszene hervortat. Zudem brachte er seine journalistischen Fähigkeiten ein und schrieb von Anfang an und jahrelang für das Fußball-Nachwuchsmagazin „Young Rebels“, das die einflussreiche Abteilung Fördernder Mitglieder (AFM) herausbringt.

Professioneller wurde es in Freiburg

Zum Journalismus war Oke Göttlich auf seiner „Deutschland-Tour“ gekommen, die er nach seinem Abitur angetreten hatte. Diese Rundreise begann mit dem Zivildienst in Heidelberg, ehe es nach Köln ging. An der renommierten Sporthochschule dort wurde er zum Diplom-Sportwissenschaftler ausgebildet. In seiner Freizeit schrieb er die Anhänger-Zeitschrift – in der Fachsprache Fanzine genannt – „PiPa Millerntor“ voll und brachte das Werk dann auch noch bei den St.-Pauli-Heimspielen vor dem Millerntor-Stadion selbst an die Frau und den Mann – also Redakteur und Straßenverkäufer in einer Person.

Professioneller wurde es bei der nächsten Station Freiburg. Die „Zeitung zum Sonntag“ war Oke Göttlichs erster Arbeitgeber. Noch heute schwärmt er von der Zusammenarbeit mit den Kollegen Ulrich Fuchs und Christoph Biermann, der sich inzwischen auch als Buchautor (u. a. „Die Fußball-Matrix“) einen Namen gemacht hat. Dann aber ging es für Göttlich zurück nach Hamburg, um bei der „taz“ im Sport und als Chef vom Dienst zu wirken.

Zwiespältige Gefühle

Es waren zwiespältige Gefühle, die ihn auf diesem Weg begleiteten. „Meine Mutter hat immer gesagt: ,Wenn man in Hamburg aufgewachsen ist, kehrt man auch immer zurück.‘ Ich hatte in meinem jugendlichen Drang, viel Neues kennenzulernen, gehofft, dass sie nicht recht behält“, erzählt er und muss zugeben: „Es ist aber so gekommen.“ Und warum? „Weil es einfach wunderschön ist und es nur hier den FC St. Pauli gibt.“ Passenderweise siedelte er sich auch in diesem Stadtteil an. „Als die beiden Kinder kamen, sind wir nach Groß Flottbek gezogen“, erzählt St. Paulis Präsident. Aber auch schon in jungen Jahren war Göttlich, der mit Vornamen offiziell Finn Oke heißt, herumgekommen. Geboren in Barmbek, wuchs er am Vogelhüttendeich in Wilhelmsburg auf, ehe es mit der Familie nach Heimfeld an den Eißendorfer Pferdeweg und schließlich nach St. Peter-Ording ging.

Am kommenden Donnerstag stellt sich Göttlich auf der Mitgliederversammlung des FC St. Pauli in der Messehalle A3, dem Votum der Basis, um bis 2021 Präsident zu bleiben. Sein Vertrauen in die heterogene Mitgliedschaft ist offenbar sehr groß, schließlich waren Göttlich und seine vier Vize-Präsidenten am 16. November 2014 für vier Jahre gewählt worden. Sie hätten also eigentlich noch ein Jahr Amtszeit vor sich.

Er zog für ein paar Tage in den Wald

Doch der Aufsichtsrat entwickelte mit dem Präsidium eine andere Idee. Das Führungsquintett um Oke Göttlich wird unmittelbar vor der Versammlung zurücktreten, um sich dann von den Mitgliedern für die nächsten vier Jahre neu wählen zu lassen, wobei die Vize-Präsidenten Thomas Happe und Reinher Karl verzichten und an ihre Stelle Christiane Hollander und Carsten Höltkemeyer rücken werden. Die anstehenden großen strategischen Herausforderungen, so heißt es, seien der Grund für die vorgezogenen Wahlen.

„Ich habe Lust, dem Verein weiterhin mein Herz zu geben. Wenn die Konstellation so vertrauensvoll bleibt, mache ich sehr gern weiter“, sagt Oke Göttlich dazu. „Wir haben in den vergangenen drei Jahren bestimmt auch viele falsche Entscheidungen getroffen. Aber die klären wir dann auch intern. Es ist ein wichtiger St.-Pauli-Baustein, dass wir keine übertriebene Eitelkeit und Missgunst ausleben.“

Erlösung, den Abstieg vermieden zu haben

Die reine Freude allerdings waren die vergangenen drei Jahre für Göttlich gewiss nicht. Als er im November 2014 Präsident wurde, steckte das Zweitligateam mitten im Kampf um den Klassenerhalt. Die Erlösung, den Abstieg vermieden zu haben, kam erst am Pfingstsonntag 2015, am allerletzten Spieltag. In der ersten Hälfte der vergangenen Saison geriet das Team derart in die Bredouille, dass der nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich immens wichtige Klassenerhalt bei sechs Punkten aus den ersten 14 Spielen utopisch schien. Dies konnte nicht spurlos an Oke Göttlich vorübergehen.

Ganz offen erzählt er von seiner Erfahrung in diesen Zeiten: „Wenn es eine Sache gibt, die ich unterschätzt habe, ist es dieser Druck. Nach über 20 Jahren als Begleiter des FC St. Pauli hat man ja gedacht, dass man es schon zur Genüge kennt, traurig, böse, wütend, enttäuscht oder auch total froh zu sein. Mit der Funktion des Präsidenten nimmt das noch eine ganz andere Dimension an.“

Zweite große Leidenschaft

Göttlich beschäftigte dabei nicht nur permanent die Frage, welche konkreten Entscheidungen zu treffen seien, um die sportliche Wende herbeizuführen. „Man denkt manchmal so abstrakten Blödsinn, dass unsere weltweit 19 Millionen Sympathisanten meinen, ich sei schuld, wenn wir absteigen, und ich sei daher der größte Trottel“, verrät er. Ein starker Rückhalt sind für ihn, gerade in den aufreibenden Situationen, seine Frau und die beiden Kinder. „Natürlich sind die Familie und das nächste Umfeld betroffen, wenn sie mich in den Seilen hängen sehen. Sie unterstützen mich, wo sie können. Wir sind in diesen drei Jahren sogar noch enger zusammengewachsen“, sagt er.

Trotz dieser Erfahrungen seit November 2014 stellt sich Göttlich nun also für weitere vier Jahre als Präsident des FC St. Pauli zur Verfügung. Was treibt den Mann an, der bei seiner zweiten großen Leidenschaft, der Musik, als Gründer und Geschäftsführer des Labels Finetunes beruflich erfolgreich ist und Bestätigung findet? „Ich habe den Traum, dass der Fußball seine Wurzeln nicht verliert. Das finde ich auch auf internationaler Ebene spannend und habe viele Ideen dazu“, kündigt er an.

Mehrtägige Auszeit

Einige davon dürfte er auch bei einer mehrtägigen Auszeit gewonnen ­haben, die er sich im Sommer gönnte. Ganz allein verbrachte er ein paar Tage im Wald. „Wir alle fühlen uns ja immer unersetzlich. Ich wollte mal schauen, was passiert, wenn man nicht da ist. Wenn man dann sieht, dass es läuft, kann man sagen, dass niemand sich zu wichtig nehmen sollte. Das erdet und ist für mich auch immer sehr sanktpaulianisch“, sagt er.

Im Wald dachte er auch ausgiebig über Grundsätzliches nach. „Der Fußball muss wieder demütiger und bodenständiger werden und die Menschen mitreißen“, sagt er. Als einsamen Rufer in der Wüste sieht er sich inzwischen längst nicht mehr. „Die Leute haben mitbekommen, dass wir keine utopischen Spinner sind. Vielmehr sprechen wir innerhalb des Systems Dinge an, die sich andere nicht anzusprechen trauen. Man nimmt uns ernst, dafür muss ich keine Krawatte tragen“, sagt Oke Göttlich, der es gern in Kauf nimmt, dass ihn andere immer noch als „komisch“ empfinden.

Nächste Woche: Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Landesvorsitzende des Opferhilfe-Vereins Weißer Ring